Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Lohn, so ist es ebenfalls nicht das Gute. Somit steht das Gute außerhalb der Kette der Ursachen und Folgen.
Und dieses Gute kenne ich, und wir alle kennen es.
Was kann es denn noch für ein Wunder geben, das größer wäre als dieses?
›Habe ich wirklich die Lösung der ganzen Frage gefunden? Haben wirklich meine Leiden jetzt ein Ende?‹ dachte Ljewin, während er auf der staubigen Landstraße dahinschritt und weder von Hitze noch von Müdigkeit etwas merkte, sondern nur das Gefühl der Linderung eines langen Leidens hatte. Dieses Gefühl war so wonnig, daß er gar nicht recht daran glauben wollte. Vor Erregung konnte er kaum atmen; er fühlte sich nicht imstande weiterzugehen, bog vom Wege ab in den Wald und setzte sich im Schatten der Espen auf das noch ungemähte Gras. Er nahm den Hut von dem schweißbedeckten Kopfe und legte sich, auf den Ellbogen gestützt, auf das saftige, breithalmige Waldgras.
›Ja, ich muß mir das klarmachen und zum vollen Verständnis bringen‹, dachte er, indem er unverwandt auf das unzerdrückte Gras blickte, das er vor sich hatte, und die Bewegungen eines grünen Käferchens verfolgte, das an einem Queckenhalm emporkroch und in seinem Aufsteigen durch ein Bärenklaublatt gehindert wurde. ›Was habe ich denn entdeckt?‹ fragte er sich, drehte das Bärenklaublatt beiseite, damit es den Käfer nicht weiter behindere, und bog einen anderen Halm heran, damit der Käfer auf diesen übergehe. ›Was freut mich denn so? Was habe ich entdeckt?
Ich habe nichts entdeckt. Ich habe nur erkannt, was ich immer schon wußte. Ich habe die Kraft begriffen, die mir nicht nur in der Vergangenheit das Leben gegeben hat, sondern mir auch jetzt das Leben gibt. Ich habe mich von der Täuschung frei gemacht; ich habe meinen Herrn erkannt.
Früher sagte ich, daß in meinem Körper und in dem Körper dieses Grashalmes und dieses Käfers (er hat nicht auf den anderen Halm hinüberkriechen wollen, sondern hat seine Flügel ausgebreitet und ist weggeflogen) sich nach physikalischen, chemischen und physiologischen Gesetzen ein Wechsel des Stoffes vollziehe. Und in uns allen, auch in den Espen und in den Wolken und in den Nebelflecken, vollziehe sich eine Entwicklung. Eine Entwicklung aus welchem Zustande und in welchen Zustand? Eine endlose Entwicklung, ein endloses Ringen ... Als ob es im Unendlichen irgendwelche Richtung und irgendwelchen Kampf geben könnte! Und ich habe mich gewundert, daß, trotz der größten Anstrengung meines Denkens auf diesem Wege, sich mir doch der Zweck des Lebens, das Ziel meines inneren Dranges und Strebens nicht erschließen wollte. Jetzt aber sage ich: ich kenne den Zweck meines Lebens: für Gott leben, für die Seele leben. Und dieser Zweck ist, seiner Klarheit unbeschadet, geheimnisvoll und wunderbar. Und denselben Zweck hat alles, was besteht. Ja, es war bei mir Hochmut‹, sagte er zu sich, drehte sich auf den Bauch herum und begann Grashalme zusammenzuknoten, ohne sie einzuknicken.
›Und nicht nur Hochmut des Verstandes, sondern auch Torheit des Verstandes. Und vor allen Dingen: eine Spitzbüberei des Verstandes, geradezu eine Spitzbüberei des Verstandes, geradezu ein Gaunerstreich des Verstandes‹, sagte er ein über das andere Mal.
Und er wiederholte sich in Kürze den ganzen Gang seiner Gedanken während dieser letzten zwei Jahre, dessen Ausgangspunkt der klare, deutliche Gedanke an den Tod beim Anblick des geliebten, hoffnungslos erkrankten Bruders gewesen war.
Als er damals zum ersten Male klar erkannt hatte, daß einem jeden Menschen, und auch ihm selbst, die Zukunft nichts weiter biete als Leiden, Tod und ewiges Vergessensein, da hatte er sich mit aller Entschiedenheit gesagt, so könne er nicht leben; entweder müsse er zu einer solchen Auffassung seines Lebens gelangen, daß es ihm nicht als der boshafte Hohn irgendeines Teufels erscheine, oder er müsse sich erschießen.
Aber er hatte weder das eine noch das andere getan, sondern weiter gelebt, gedacht und gefühlt und hatte sich sogar gerade in dieser Zeit verheiratet und viele Freuden kennengelernt und war glücklich gewesen, wenn er nicht gerade über die Bedeutung seines Lebens nachdachte.
Wie war das zugegangen? Das war so zugegangen: sein Leben war gut gewesen, aber sein Denken schlecht.
Er hatte (ohne sich dessen bewußt zu sein) gelebt auf der Grundlage jener geistigen Wahrheiten, die er mit der Muttermilch eingesogen hatte; aber wenn er
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