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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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begonnen hatte zu denken, hatte er diese Wahrheiten verleugnet und geflissentlich umgangen.
     
    Jetzt nun war es ihm klargeworden, daß er nur dank jener Glaubenswahrheiten, in denen er erzogen war, leben könne.
     
    ›Was würde ich denn für ein Mensch sein, und wie würde ich mein Leben zubringen, wenn ich diese Glaubenswahrheiten nicht hätte, nicht wüßte, daß man für Gott leben muß und nicht für den eigenen Vorteil? Ich würde rauben, lügen, morden. Nichts von dem, was die größten Freuden meines Lebens ausmacht, würde für mich dasein.‹ Und selbst mit äußerster Anstrengung seiner Einbildungskraft vermochte er sich nicht das tierische Wesen vorzustellen, das er selbst sein würde, wenn er nicht wüßte, wozu er lebte.
     
    ›Ich habe eine Antwort auf meine Frage gesucht. Aber eine Antwort auf meine Frage konnte mir das Denken nicht geben; es ist mit dieser Frage nicht zu messen. Das Leben selbst hat mir die Antwort gegeben durch mein Wissen darüber, was gut und was schlecht ist. Aber dieses Wissen habe ich durch nichts erworben, sondern es ist mir wie allen anderen Menschen gegeben worden, gegeben, weil ich es eben nirgendwo hätte hernehmen können.
     
    Woher habe ich dieses Wissen? Bin ich etwa durch den Verstand zu der Überzeugung gelangt, daß man seinen Nächsten lieben und nicht erwürgen müsse? Nein, sondern man hat mir das in meiner Kindheit gesagt, und ich habe es freudig geglaubt, weil man mir das sagte, was schon von vornherein in meiner Seele vorhanden war. Und wer hat das entdeckt? Nicht der Verstand. Der Verstand hat den Kampf ums Dasein entdeckt und das Gesetz, das verlangt, daß ich alle erwürgen soll, die mich an der Befriedigung meiner Wünsche hindern. Das ist das Ergebnis des Verstandes. Aber den Satz, daß man einen anderen Menschen lieben solle, den hat der Verstand nicht entdecken können, weil dieser Satz dem Verstande zuwiderläuft.‹
     

13
     
    H ier erinnerte sich Ljewin an einen Vorfall, der sich vor kurzem mit Dolly und ihren Kindern zugetragen hatte. Die Kinder, die allein geblieben waren, hatten angefangen, Himbeeren über den Kerzen zu schmoren und sich gegenseitig Milch wie aus einem Brunnenrohr in den Mund zu gießen. Die Mutter hatte sie dabei betroffen und ihnen in Ljewins Gegenwart vorgehalten, wieviel Arbeit es die Erwachsenen gekostet habe, das herzustellen, was sie da vergeudeten, und daß diese Arbeit um ihretwillen geleistet werde, und daß, wenn sie die Tassen entzwei machten, sie nichts haben würden, um daraus Tee zu trinken, und wenn sie die Milch vergössen, sie keine Nahrung haben und vor Hunger umkommen würden.
     
    Es hatte Ljewin überrascht, mit welchem stillen, trüben Unglauben die Kinder diese Lehren der Mutter anhörten. Es hatte ihnen nur leid getan, daß ihr lustiges Spiel nun zu Ende war, und sie hatten kein Wort von dem geglaubt, was die Mutter gesagt hatte. Sie hatten es auch nicht glauben können, weil sie nicht imstande waren, den ganzen Umfang dessen, wovon sie Nutzen zogen, zu ermessen, und sich darum auch nicht vorstellen konnten, daß das, was sie da zerstörten, dasselbe sei, wovon sie lebten.
     
    ›Das ist alles von selbst da‹, dachten sie, ›und daran ist nichts Besonderes und Wichtiges; denn das ist immer dagewesen und wird immer dasein. Und es ist immer ein und dasselbe. Darüber brauchen wir nicht nachzudenken; das ist immer ohne weiteres so da; aber wir möchten uns gern etwas Eigenes, Neues ausdenken. Da haben wir uns nun ein Spiel erfunden, Himbeeren in eine Tasse zu tun und sie über dem Lichte zu schmoren und einander die Milch von oben in einem Strahle gerade in den Mund zu gießen. Das ist lustig und etwas Neues und doch gewiß nicht eine schlechtere Handlung, als aus den Tassen zu trinken.
     
    Tun wir denn nicht dasselbe, habe ich denn nicht dasselbe getan, als ich mit dem Verstande das Wesen der Naturkräfte und den Zweck des menschlichen Lebens zu erkennen suchte?‹ dachte er weiter.
     
    ›Und tun denn nicht alle philosophischen Lehren dasselbe, wenn sie den Menschen auf einem seltsamen Gedankenwege, der seinem Charakter gar nicht entspricht, zu der Erkenntnis dessen führen, was er schon lange weiß und mit solcher Sicherheit weiß, daß er ohne dieses Wissen überhaupt nicht leben könnte? Merkt man es nicht bei jedem Philosophen der Darlegung seiner Lehre deutlich an, daß er ebenso zweifellos wie der Bauer Fjodor (aber keineswegs mit größerer Klarheit als dieser) den Hauptzweck des Lebens

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