Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
das ist ein rechtschaffener alter Mann. Er lebt für seine Seele. Er hat Gott vor Augen.«
»Was heißt das: er hat Gott vor Augen, er lebt für seine Seele?« fragte Ljewin; er schrie die Frage beinahe heraus.
»Nun, ganz einfach: er lebt nach der Gerechtigkeit, nach Gottes Gebot. Die Menschen sind eben verschieden. Um gleich Sie zu nehmen, Sie werden ja doch auch niemandem zu nahe treten ...«
»Na ja, na ja, also adieu!« sagte Ljewin, der vor Aufregung kaum atmen konnte; er drehte sich um, nahm seinen Stock und ging schnell fort auf dem Wege nach seinem Hause. Bei den Worten des Bauern, daß Fokanütsch für seine Seele lebe, nach der Gerechtigkeit, nach Gottes Gebot, hatte er die Empfindung gehabt, als ob eine Menge unklarer, aber wichtiger Gedanken aus irgendeinem verschlossenen Raum in seinem Innern hervorbräche und als ob diese Gedanken dann, alle nach ein und demselben Ziel strebend, in seinem Kopf umherwirbelten und ihn mit ihrem Lichte blendeten.
12
L jewin ging mit großen Schritten auf der Landstraße hin und richtete dabei seine Aufmerksamkeit nicht sosehr auf seine Gedanken (diese vermochte er noch nicht zu entwirren) wie auf seinen Seelenzustand; denn einen derartigen Seelenzustand hatte er früher noch nie durchgemacht.
Die Worte, die der Bauer gesprochen, hatten in seiner Seele die Wirkung eines elektrischen Funkens hervorgebracht und einen ganzen Schwarm zerstreuter, kraftloser, vereinzelter Gedanken, die eigentlich niemals aufgehört hatten, ihn zu beschäftigen, umgestaltet und zu einem Ganzen verbunden. Diese Gedanken hatten ihn, ohne daß er sich dessen selbst bewußt gewesen wäre, auch in dem Augenblick beschäftigt, als er von der Verpachtung des Landes sprach.
Er fühlte, daß in seiner Seele etwas Neues entstanden war, und tastete mit Genuß an diesem Neuen herum, ohne noch zu wissen, was dieses Neue eigentlich sei.
,Nicht für seinen Vorteil leben, sondern für Gott. Für was für einen Gott? Und kann man etwas Sinnloseres sagen als das, was er gesagt hat? Er hat gesagt, man müsse nicht für seinen Vorteil leben, das heißt, man müsse nicht für das leben, was uns verständlich ist, wozu es uns hinzieht, was wir gern haben, sondern man müsse für etwas Unbegreifliches leben, für Gott, den doch niemand zu begreifen oder zu bestimmen vermag. Und doch: habe ich etwa diese sinnlosen Worte Fjodors nicht verstanden? Oder habe ich sie zwar verstanden, aber an ihrer Richtigkeit gezweifelt? Habe ich sie für töricht, undeutlich, unzutreffend gehalten?
Nein, ich habe verstanden, was er sagte, und ganz in der Weise, wie er selbst es versteht; ich habe es vollständiger und klarer verstanden, als ich irgend etwas im Leben verstehe, und nie in meinem Leben habe ich daran gezweifelt und werde auch nie daran zweifeln können. Und so geht es nicht mir allein, sondern allen, der ganzen Welt; das ist das einzige, was alle vollständig verstehen, das einzige, woran niemand zweifelt, das einzige, worüber alle einig sind.
Und ich habe nach Wundern verlangt, ich habe es beklagt, daß ich kein Wunder gesehen habe, weil ich meinte, ein Wunder würde mich überzeugt haben. Aber an einem stofflichen Wunder hätte ich Anstoß genommen. Und hier ist ein Wunder, das einzig mögliche, stets vorhandene, das mich von allen Seiten umgibt, und ich habe es nicht bemerkt!
Fjodor sagt, der Herbergswirt Kirillow lebe für seinen Bauch. Daß er so lebt, ist begreiflich; es entspricht der Vernunft. Wir alle, als vernunftbegabte Wesen, können nicht anders leben als für den Bauch. Und nun sagt auf einmal dieser selbe Fjodor, es sei etwas Schlechtes, für den Bauch zu leben, man müsse für die Gerechtigkeit, für Gott leben, und ich verstehe aus dieser bloßen Andeutung, was er meint! Und ich und die Millionen von Menschen, die all diese Jahrhunderte her gelebt haben und jetzt leben, die Bauern, die geistig Armen und die Weisen, die darüber nachgedacht und darüber geschrieben haben und in ihrer unklaren Sprache dasselbe sagen: wir alle sind in diesem einen Punkte einig: wozu wir leben müssen und was das Gute sei. Ich und alle anderen Menschen, wir besitzen nur ein einziges, sicheres, zweifelloses, klares Wissen; und dieses Wissen kann nicht durch die Vernunft erklärt werden; denn es liegt außerhalb der Vernunft, es hat keine Ursachen und kann keine Folgen haben.
Wenn das Gute eine Ursache hat, so ist es nicht mehr das Gute; wenn es eine Folge hat, einen
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