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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Wronskis ganzes inneres Leben von seiner Leidenschaft ausgefüllt war, rollte doch sein äußeres Leben
    unverändert und unaufhaltsam in dem früheren gewohnten Geleise der gesellschaftlichen und kameradschaftlichen
    Beziehungen und Interessen dahin. Die kameradschaftlichen Interessen nahmen in Wronskis Leben eine wichtige Stelle
    ein, erstens, weil er sein Regiment liebte, und zweitens in noch höherem Grade deswegen, weil er im Regiment sehr
    beliebt war. Und Wronski war im Regiment nicht nur beliebt, sondern seine Kameraden schätzten ihn auch hoch und
    waren stolz darauf, daß dieser Mann, der über einen gewaltigen Reichtum verfügte und eine vorzügliche Bildung und
    ausgezeichnete Fähigkeiten besaß und auf jedem Gebiete, mochte er es nun auf Befriedigung des Ehrgeizes oder auf
    Befriedigung der Eitelkeit anlegen, den Weg zum Erfolge frei und unbehindert vor sich liegen sah, – daß dieser Mann
    das alles hintansetzte und von allen Lebensinteressen den Interessen des Regiments und der Kameraden in seinem
    Herzen den weitesten Raum gönnte. Wronski wußte, daß die Kameraden so über ihn dachten, und abgesehen davon, daß
    ihm dieses Leben zusagte, fühlte er sich verpflichtet, die über ihn bestehende Meinung durch sein Verhalten zu
    rechtfertigen.
    Es versteht sich von selbst, daß er mit keinem seiner Kameraden von seiner Liebe sprach, ja selbst bei den
    ärgsten Zechgelagen ließ er sich kein Wort darüber entschlüpfen (übrigens betrank er sich überhaupt nie so, daß er
    die Herrschaft über sich selbst verloren hätte) und stopfte denen seiner leichtsinnigen Kameraden den Mund, die
    sich erlaubten, Anspielungen auf sein Verhältnis zu machen. Aber trotzdem war seine Liebe in der ganzen Stadt
    bekannt; alle errieten mehr oder weniger genau die Natur seiner Beziehungen zu Frau Karenina; die meisten jungen
    Männer beneideten ihn gerade um das, was ihm bei dieser Liebe das Peinlichste war: daß Karenin eine so hohe
    amtliche Stellung bekleidete und daher diese Liebschaft den Blicken aller ausgesetzt war.
    Von den jungen Frauen hatten sehr viele Anna von jeher beneidet, und es hatte sie schon lange verdrossen, daß
    Anna in der Gesellschaft als eine ›durchaus anständige Frau‹ bezeichnet zu werden pflegte; diese freuten sich nun
    in der Voraussetzung, daß ihre Vermutungen richtig seien, und warteten nur auf den endgültigen Umschwung der
    öffentlichen Meinung, um mit der ganzen Wucht ihrer Verachtung über Anna herzufallen. Sie hielten bereits die
    Schmutzklumpen in Bereitschaft, mit denen sie sie bewerfen wollten, sobald der rechte Augenblick gekommen wäre.
    Dagegen waren die meisten Leute, die sich in höherem Lebensalter und in höherer Stellung befanden, sehr mißvergnügt
    über dieses sich vorbereitende gesellschaftliche Ärgernis.
    Wronskis Mutter war, als sie von dieser Liebschaft gehört hatte, anfangs damit zufrieden gewesen, erstens, weil
    ihrer Meinung nach nichts so geeignet war, einem jungen Manne in glänzender Lebensstellung den letzten Schliff zu
    geben, wie ein Liebesverhältnis in den höchsten Schichten der Gesellschaft, und zweitens, weil Frau Karenina, die
    ihr so gut gefallen und ihr so viel von ihrem kleinen Sohne erzählt hatte, nun doch – nach der Auffassung der
    Gräfin Wronskaja – von ganz demselben Schlage war wie alle schönen, vornehmen Frauen. Aber neuerdings hatte sie
    erfahren, daß ihr Sohn eine ihm angebotene, für seine ganze Laufbahn wichtige Stellung nur deswegen abgelehnt habe,
    um im Regiment in Petersburg zu bleiben, wo er mit Frau Karenina zusammentreffen konnte; sie hatte erfahren, daß
    hochgestellte Persönlichkeiten sein Verhalten stark mißbilligten; so änderte sie denn ihre Meinung. Auch das
    mißfiel ihr, daß nach allem, was sie über diese Liebschaft hörte, es sich dabei nicht um ein glänzendes,
    unterhaltsames Verhältnis im Stile der großen Welt handele (dagegen hätte sie nichts gehabt), sondern um eine Art
    von verzweifelter Werther-Leidenschaft, die ihn zu Torheiten verleiten konnte. Sie hatte ihn seit seiner
    überraschenden Abreise aus Moskau nicht mehr gesehen und ihn jetzt durch Vermittlung ihres ältesten Sohnes
    aufgefordert, zu ihr zu kommen.
    Auch der ältere Bruder war mit dem jüngeren unzufrieden. Er untersuchte nicht, von welcher Art diese Liebe sei,
    ob groß oder klein, leidenschaftlich oder nicht leidenschaftlich, lasterhaft oder nicht lasterhaft (er selbst,
    obwohl er Frau und Kinder hatte, hielt eine Tänzerin aus

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