Anna Karenina
und urteilte daher über dergleichen nachsichtig); aber er
wußte, daß diese Liebe Mißfallen bei Leuten erregte, nach deren Gunst man streben mußte, und daher mißbilligte er
das Benehmen seines Bruders.
Außer seiner dienstlichen Tätigkeit und seinem Verkehr in der Gesellschaft hatte Wronski noch eine andere
Neigung: die für Pferde; für Pferde hatte er eine große Leidenschaft.
Für dieses Jahr war unter anderen ein Offiziersrennen mit Hindernissen angesetzt. Wronski hatte sich für dieses
Rennen eingeschrieben, sich eine englische Vollblutstute gekauft und war nun trotz seiner Liebe mit Leib und Seele,
wiewohl nicht etwa maßlos, bei den Vorbereitungen zum Rennen.
Diese beiden Leidenschaften waren einander wechselseitig nicht hinderlich. Im Gegenteil, er brauchte etwas, was
ihn beschäftigte und interessierte, unabhängig von seiner Liebe, etwas, wobei er sich von den allzu heftigen
Gemütsaufregungen erfrischte und erholte.
19
Am Tage des Rennens in Krasnoje Selo kam Wronski früher als gewöhnlich in den Speisesaal des Regimentskasinos,
um ein Beefsteak zu essen. Er hatte keine besonders strenge Kost nötig, da sein Gewicht genau den
vorschriftsmäßigen viereinhalb Pud gleichkam; aber dicker durfte er auch nicht werden, und darum vermied er
Mehlspeisen und Süßigkeiten. Er saß da, den Rock über der weißen Weste aufgeknöpft, beide Ellbogen auf den Tisch
stützend, und blickte, während er auf das bestellte Beefsteak wartete, in einen französischen Roman, der auf seinem
Teller lag. Er sah nur darum in das Buch, um nicht mit den beständig kommenden und gehenden Offizieren reden zu
müssen; aber er überließ sich dabei seinen Gedanken.
Er dachte daran, daß Anna versprochen hatte, ihm heute nach dem Rennen ein Zusammensein zu gewähren. Aber da er
sie seit drei Tagen nicht gesehen hatte und inzwischen ihr Mann aus dem Auslande zurückgekehrt war, so wußte er
nicht, ob unter diesen Umständen das Zusammensein heute möglich sein werde oder nicht, und wußte auch nicht, wie er
es in Erfahrung bringen sollte. Zum letzten Male hatte er sich mit ihr in dem Landhause seiner Cousine Betsy
getroffen. Das von Karenins bewohnte Landhaus besuchte er möglichst selten. Jetzt jedoch wäre er gern dorthin
gefahren und erwog die Frage, wie das unauffällig anzustellen sei.
›Selbstverständlich werde ich sagen, Betsy habe mich hingeschickt, um sich erkundigen zu lassen, ob sie zum
Rennen kommen werde. Ich fahre bestimmt hin‹, war das Ergebnis seiner Überlegungen, und nun hob er den Kopf vom
Buche in die Höhe. Indem er sich das Glück, sie wiederzusehen, lebhaft vorstellte, strahlte er über das ganze
Gesicht.
»Schicke jemanden nach meiner Wohnung«, sagte er zu dem Diener, der ihm das Beefsteak auf einer heißen silbernen
Platte brachte. »Ich ließe sagen, es solle so schnell wie möglich die Kutsche dreispännig angespannt werden.« Dann
zog er die Platte zu sich heran und fing an zu essen.
Aus dem daneben befindlichen Billardzimmer hörte man das Anstoßen der Bälle, Sprechen und Lachen. Durch die
Eingangstür des Speisesaales traten zwei Offiziere herein: der eine ein noch sehr junges Bürschchen mit schmalem,
feinem Gesichte; er war erst kürzlich aus dem Pagenkorps in das Regiment eingetreten; der andere ein dicker,
älterer Offizier mit einem Armband am Handgelenk und verquollenen, kleinen Augen.
Wronski warf einen Blick zu ihnen hin und machte ein verdrießliches Gesicht; er tat, als ob er sie gar nicht
bemerke, und begann, indem er nach seinem Buche hinschielte, gleichzeitig zu essen und zu lesen.
»Nun, stärkst du dich für die Arbeit?« sagte der dicke Offizier und setzte sich neben ihn.
»Wie du siehst«, erwiderte Wronski stirnrunzelnd und wischte sich, ohne nach ihm hinzusehen, den Mund.
»Fürchtest du nicht, zu dick zu werden?« fuhr jener fort und drehte dabei einen Stuhl für den jungen Offizier
zurecht.
»Wie?« fragte Wronski ärgerlich, verzog mit einer Gebärde des Widerwillens das Gesicht und zeigte seine
kräftigen, lückenlosen Zähne.
»Ob du nicht fürchtest, zu dick zu werden?«
»Ordonnanz, Sherry!« rief Wronski, ohne ihm zu antworten, legte das Buch auf die andere Seite und las
weiter.
Der dicke Offizier nahm die Weinkarte und wandte sich an den jüngeren Kameraden:
»Suche selbst aus, was wir trinken wollen«, sagte er, reichte ihm die Karte hin und sah ihn an.
»Vielleicht Rheinwein?« versetzte dieser. Er schielte schüchtern
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