Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Unglück gibt, sondern geradezu kein Leben‹, dachte er.
    Er ärgerte sich über alle diese Menschen wegen ihrer Einmischung eben deshalb, weil er im Grunde seines Herzens
    fühlte, daß sie recht hatten. Er fühlte, daß die Liebe, die ihn mit Anna verband, nicht ein augenblicklicher Rausch
    sei, der vergehen werde, wie gewöhnliche Liebschaften vergehen, ohne in ihrem Leben andere Spuren zurückzulassen
    als angenehme oder unangenehme Erinnerungen. Er fühlte, wie qualvoll seine und ihre Lage war, welche Schwierigkeit
    es für sie beide hatte, so den Augen der ganzen Gesellschaft ausgesetzt ihre Liebe zu verbergen, zu lügen und zu
    betrügen und List anzuwenden und beständig an andere Leute zu denken, während doch die Leidenschaft, die sie
    verknüpfte, so mächtig war, daß sie beide alles andere außer ihrer Liebe vergaßen.
    Er erinnerte sich, lebhaft aller jener häufig vorgekommenen Fälle, wo sie sich zu Lüge und Täuschung genötigt
    gesehen hatten, die doch seiner Natur so zuwider waren; er erinnerte sich besonders lebhaft daran, daß er mehrmals
    an ihr ein Gefühl der Scham über diese Notwendigkeit, zu lügen und zu betrügen, wahrgenommen hatte. Und es überkam
    ihn ein sonderbares Gefühl, das er schon manchmal seit dem Beginn seiner Beziehungen zu Anna gehabt hatte. Es war
    dies ein Gefühl des Ekels vor irgend etwas: ob vor Alexei Alexandrowitsch oder vor sich selbst oder vor der ganzen
    Gesellschaft, das wußte er selbst nicht recht. Aber er hatte dieses sonderbare Gefühl immer möglichst schnell
    verscheucht. Und auch jetzt schüttelte er sich, um es loszuwerden, und setzte seinen Gedankengang fort.
    ›Ja, sie war früher unglücklich, aber stolz und ruhig; jetzt hingegen kann sie nicht ruhig und selbstbewußt
    sein, obwohl sie sich nichts merken lassen möchte. Ja, diesem Zustand muß ein Ende gemacht werden‹, sagte er zu
    sich selbst mit aller Bestimmtheit.
    Und zum ersten Male bildete sich in seinem Kopfe der klare Gedanke, daß dieses Lügen ein Ende nehmen müsse, und
    zwar je eher, desto besser. ›Wir beide, sie und ich, müssen uns von allem lossagen und uns in irgendeinem Winkel
    allein mit unserer Liebe verbergen‹, sagte er zu sich.

22
    Der Regenguß dauerte nicht lange, und als Wronski in vollem Trabe des Deichselpferdes, das die schon ohne
    Lenkriemen durch den Schmutz dahingaloppierenden Seitenpferde mit sich zog, in Peterhof ankam, schaute die Sonne
    schon wieder hervor, und die Dächer der Landhäuser und die alten Linden in den Gärten zu beiden Seiten der
    Hauptstraße blitzten in nassem Glanze, und das Wasser tropfte lustig von den Zweigen und rann von den Dächern
    herunter. Er dachte nicht mehr daran, wie dieser Platzregen die Rennbahn verderbe, sondern jetzt freute er sich
    darüber, daß er dank diesem Regen sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause treffen werde, und zwar allein, da er
    wußte, daß Alexei Alexandrowitsch, der erst kürzlich vom Auslande aus dem Bade zurückgekehrt war, es vorgezogen
    hatte, nicht nach Peterhof hinauszuziehen, sondern in Petersburg wohnen zu bleiben.
    In der Hoffnung, sie allein zu finden, fuhr Wronski, wie er das stets zu tun pflegte, um weniger die
    Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht über die kleine Brücke hinüber, sondern stieg vorher aus und ging zu Fuß.
    Er benutzte nicht die nach der Straße zu gelegene Haustür, sondern ging über den Hof.
    »Ist der Herr gekommen?« fragte er den Gärtner.
    »Nein. Aber die gnädige Frau ist zu Hause. Haben Sie die Güte, nach der Vordertür zu gehen; es sind Leute von
    der Dienerschaft da, die Ihnen öffnen werden.«
    »Nein, ich möchte durch den Garten gehen.«
    Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie allein sei, wurde in ihm der Wunsch rege, sie vollständig zu
    überraschen, da er nicht versprochen hatte, heute zu kommen, und sie gewiß nicht dachte, daß er vor dem Rennen noch
    herüberfahren werde. So ging er denn, den Säbel festhaltend, mit vorsichtigen Schritten auf dem mit Blumen
    eingefaßten Kieswege nach der Terrasse hin, die nach dem Garten zu lag. Er hatte jetzt alles vergessen, was ihm
    unterwegs über die Peinlichkeit und Schwierigkeit seiner Lage durch den Sinn gegangen war. Er dachte jetzt nur an
    eines: daß er sie im nächsten Augenblicke sehen werde, nicht allein in der Einbildung, sondern lebend und ganz, so,
    wie sie in Wirklichkeit war. Er ging bereits, mit dem ganzen Fuße auftretend, um kein Geräusch zu verursachen, die
    abgeschrägten Stufen

Weitere Kostenlose Bücher