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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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jedesmal errötete, wenn er fühlte, daß er auf seiner Hut sein und sich umschauen müsse.
    »Nein, ich bin ganz gesund«, antwortete sie, indem sie sich erhob und die Hand, die er ihr hinstreckte, kräftig
    drückte. »Ich hatte dich nicht erwartet.«
    »Mein Gott, was für kalte Hände!« sagte er.
    »Du hast mich erschreckt«, erwiderte sie. »Ich bin allein und warte auf meinen kleinen Sergei; er ist
    spazierengegangen; sie müssen von dieser Seite kommen.« Aber obwohl sie sich alle Mühe gab, ruhig zu sein,
    zitterten doch ihre Lippen.
    »Verzeihen Sie mir, daß ich gekommen bin; aber ich konnte den Tag nicht hingehen lassen, ohne Sie zu sehen«,
    fuhr er auf französisch fort; dieser Sprache bediente er sich stets, um einerseits das zwischen ihnen unmögliche
    kühle russische Sie, anderseits das gefährliche russische Du zu vermeiden.
    »Was ist denn zu verzeihen? Ich freue mich ja so!«
    »Aber Sie sind nicht wohl, oder Sie haben einen Kummer«, fuhr er fort, ohne ihre Hand loszulassen, und beugte
    sich über sie. »Woran haben Sie gedacht?«
    »Immer an ein und dasselbe«, antwortete sie lächelnd.
    Sie sagte die Wahrheit. Man hätte sie fragen können, wann man wollte, woran sie denke, immer hätte sie
    wahrheitsgemäß antworten können, sie denke an ein und dasselbe, an ihr Glück und an ihr Unglück. So hatte sie
    gerade jetzt, wo er zu ihr getreten war, daran gedacht, warum doch andere Frauen, zum Beispiel Betsy (sie wußte von
    deren geheimem Verhältnis zu Tuschkewitsch), von all dergleichen so gar keine Sorgen hatten, während sie deswegen
    solche Qual ausstehen mußte. Heute hatte dieser Gedanke, aus bestimmtem Anlaß, sie ganz besonders gepeinigt. Sie
    fragte ihn nach dem Rennen. Er antwortete ihr, und da er sah, daß sie erregt war, so begann er, in der Absicht, sie
    zu zerstreuen, ihr im allerharmlosesten Tone Einzelheiten von den Vorbereitungen zum Rennen zu erzählen.
    ›Soll ich es ihm sagen oder nicht?‹ dachte sie, während sie in seine ruhigen, freundlichen Augen blickte. ›Er
    ist so glücklich, so ganz mit seinem Rennen beschäftigt, daß er meine Nachricht nicht in der gehörigen Weise
    auffassen, nicht die ganze Bedeutung dieses Ereignisses für uns verstehen wird.‹
    »Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, woran Sie dachten, als ich kam«, sagte er, sein Erzählen unterbrechend.
    »Bitte, sagen Sie es mir!«
    Sie antwortete nicht, sondern blickte ihn, den Kopf ein wenig vorneigend, von unten her mit ihren schönen, durch
    die langen Wimpern hindurchleuchtenden Augen fragend an. Ihre Hand, die mit einem abgerissenen Blatte spielte,
    zitterte leise. Er sah dies, und sein Gesicht nahm den Ausdruck jener Ergebenheit, jener sklavischen
    Unterwürfigkeit an, der von jeher einen so starken Eindruck auf sie gemacht hatte.
    »Ich sehe, daß etwas vorgefallen ist. Kann ich etwa auch nur einen Augenblick ruhig sein, wenn ich weiß, daß Sie
    einen Kummer haben, den ich nicht mit Ihnen teilen darf? Um Gottes willen, reden Sie!« bat er noch einmal in
    flehendem Tone.
    ›Ja‹, dachte sie, während sie ihn immer noch ebenso anblickte und fühlte, daß ihre Hand mit dem Blatte immer
    stärker zitterte, ›ich würde es ihm nie verzeihen, wenn er nicht die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstehen
    sollte. Es ist besser, wenn ich nichts sage; wozu soll ich ihn auf die Probe stellen?‹
    »Um Gottes willen, reden Sie!« drängte er von neuem, indem er ihre Hand ergriff.
    »Soll ich es sagen?«
    »Ja, ja, ja!«
    »Ich bin in anderen Umständen«, sagte sie leise und langsam.
    Das Blatt in ihrer Hand zitterte immer heftiger, aber sie wandte die Augen nicht von Wronski ab, um zu sehen,
    wie er diese Mitteilung aufnehmen werde. Er erblaßte, wollte etwas erwidern, hielt aber inne, ließ ihre Hand los
    und senkte den Kopf. ›Ja, er hat die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstanden‹, dachte sie und drückte ihm
    dankbar die Hand.
    Trotzdem irrte sie sich in der Annahme, daß er die Bedeutung dieser Nachricht in derselben Weise verstehe, wie
    sie sie als Frau verstand. Bei dieser Mitteilung hatte er mit verzehnfachter Stärke einen Anfall jenes sonderbaren,
    ihn mitunter überkommenden Gefühls des Ekels gegen irgend jemand erlitten; aber zugleich hatte er erkannt, daß jene
    Krisis, die er herbeigewünscht hatte, jetzt eingetreten war, daß es unmöglich war, die Sache länger vor dem
    Ehemanne zu verheimlichen, und daß mit Notwendigkeit dieser unnatürlichen Lage bald auf die eine oder

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