Anna Karenina
der Terrasse hinan, als ihm plötzlich etwas einfiel, was er immer vergaß und was doch die
schmerzlichste Seite in seinen Beziehungen zu ihr bildete: ihr Sohn mit seinem fragenden und, wie es ihm vorkam,
feindseligen Blicke.
Dieser Knabe war ihrem Verkehr häufiger als alle anderen Personen hinderlich. Sobald er zugegen war, erlaubten
sich weder Wronski noch Anna, etwas zu sagen, was sie nicht vor aller Ohren hätten wiederholen können, ja, sie
erlaubten sich nicht einmal, von den Dingen, die der Knabe doch nicht verstanden hätte, auch nur in Andeutungen zu
reden. Sie hatten sich darüber nicht miteinander verabredet, sondern das hatte sich ganz von selbst so gemacht. Sie
hätten es ihrer selbst für unwürdig gehalten, dieses Kind zu täuschen. In seiner Gegenwart sprachen sie
miteinander, als ob sie nur ein paar Bekannte wären. Aber trotz dieser Vorsicht merkte doch Wronski häufig, daß der
Knabe einen aufmerksamen, verwunderten Blick auf ihn richtete und eine eigentümliche Schüchternheit gegen ihn
zeigte oder vielmehr sich ganz ungleichmäßig ihm gegenüber benahm, bald freundlich, bald kühl und blöde. Es war,
als hätte das Kind eine Empfindung dafür, daß zwischen diesem Manne und seiner Mutter irgendwelche wichtige
Beziehung bestehe, deren Bedeutung es nicht verstehen könne.
Und wirklich fühlte der Knabe, daß er diese Beziehung nicht verstehen könne; er strengte sich an, sich darüber
klarzuwerden, welches Gefühl er diesem Manne gegenüber haben müsse, konnte aber nicht damit ins reine kommen. Mit
der Feinfühligkeit des Kindes sah er klar, daß sein Vater, seine Gouvernante, seine Wärterin, alle jenen Mann nicht
leiden konnten, ja mit Abneigung und Furcht auf ihn blickten, wiewohl sie nichts über ihn sagten, daß aber seine
Mutter in ihm ihren besten Freund sah.
›Was hat das zu bedeuten? Was für ein Mann ist das? Wie soll ich ihn lieben? Wenn ich das nicht verstehe, so ist
das gewiß meine Schuld, und ich bin entweder ein dummer oder ein unartiger Junge‹, dachte das Kind, und daher kam
jener forschende, fragende, oft feindselige Ausdruck und die Scheu und die Ungleichmäßigkeit des Benehmens, durch
die Wronski sich so peinlich berührt fühlte. Die Gegenwart dieses Kindes rief jedesmal und unvermeidlich bei
Wronski jenes sonderbare Gefühl eines Ekels ohne eigentlichen Gegenstand hervor, das er in der letzten Zeit so oft
empfunden hatte. Die Gegenwart dieses Kindes weckte bei Wronski und bei Anna ein Gefühl, wie es ein Seefahrer haben
mag, wenn er am Kompaß sieht, daß die Richtung, in der sein Schiff schnell dahinfährt, von der ordnungsmäßigen weit
abweicht, sich aber sagen muß, daß es nicht in seiner Macht liegt, die Bewegung zu hemmen, daß jede Minute ihn mehr
und mehr abtreibt und daß das Einwilligen in die Abweichung von der ordnungsmäßigen Richtung gleichbedeutend ist
mit dem Einwilligen in seinen Untergang.
Dieses Kind mit seinem naiven, ungetrübten Blicke für das Leben war der Kompaß, der ihnen den Grad der
Abweichung von dem Wege der Pflicht angab, von dem Wege, den sie zwar kannten, aber nicht kennen wollten.
Aber diesmal war der kleine Sergei nicht zu Hause, und sie war völlig allein; sie saß auf der Terrasse und
wartete auf die Rückkehr ihres Sohnes, der spazierengegangen und dabei vom Regen überrascht worden war. Sie hatte
einen Diener und ein Mädchen ausgeschickt, um ihn zu suchen, und saß nun da und wartete. Sie trug ein weißes Kleid
mit breiter Stickerei und saß in einer Ecke der Terrasse hinter blühenden Gewächsen und hörte den herankommenden
Wronski nicht. Den schwarzlockigen Kopf vorbeugend, preßte sie die Stirn gegen eine kalte Gießkanne, die auf dem
Geländer stand, und hatte ihre beiden schönen Hände mit den ihm so wohlbekannten Ringen um die Gießkanne gelegt.
Die Schönheit ihrer ganzen Gestalt, des Kopfes, des Halses, der Arme überraschte Wronski jedesmal wie etwas Neues,
Unerwartetes. Er blieb stehen und betrachtete sie voll Entzücken. Aber kaum schickte er sich an, auf der Terrasse
einen Schritt zu tun, um sich ihr zu nähern, als sie auch schon seine Annäherung bemerkte, die Gießkanne
zurückstieß und ihm ihr heißes Gesicht zuwandte.
»Was ist Ihnen? Sind Sie nicht wohl?« fragte er auf französisch, indem er zu ihr hintrat. Er hatte auf sie
zustürzen wollen; aber da ihm einfiel, daß es möglicherweise jemand sehen könnte, blickte er nach der Verandatür
und errötete, wie er
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