Anna Karenina
ihr gekommen sei, und ein Zettel von
seinem Bruder, der ihm schrieb, er müsse ihn dringend sprechen. Wronski wußte, daß es sich immer um dieselbe Sache
handele. ›Was geht das die an!‹ dachte er, knickte den Brief und den Zettel mehrmals zusammen und schob sie
zwischen die Knöpfe seines Waffenrocks, um sie während des Fahrens aufmerksam zu lesen. Im Flur des Häuschens
begegneten ihm zwei Offiziere, der eine von seinem Regiment, der andere von einem anderen.
Wronskis Quartier bildete immer den Sammelplatz für alle Offiziere.
»Wohin?«
»Ich muß nach Peterhof.«
»Ist das Pferd aus Zarskoje gekommen?«
»Ja, aber ich habe es noch nicht gesehen.«
»Es heißt, Machotins Gladiator sei lahm geworden.«
»Unsinn! Aber wie werdet ihr nur bei diesem Schmutze reiten können?« sagte der zweite.
»Da kommen meine Retter!« schrie Petrizki, als er die Eintretenden erblickte. (Vor ihm stand sein Bursche mit
Schnaps und Salzgurken auf einer Platte.) »Jaschwin hier hat gesagt, ich solle trinken, um wieder frisch zu
werden.«
»Na, ihr habt uns gestern mit euerem Heidenlärm gehörig geärgert«, sagte einer der Hinzugekommenen. »Die ganze
Nacht habt ihr uns nicht schlafen lassen.«
»Nein, und nun erst der Schluß der ganzen Geschichte!« erzählte Petrizki. »Wolkow kletterte aufs Dach und sagte,
er sei so traurig. Ich rief: ›Hierher die Musik! Einen Trauermarsch!‹ Und so schlief er auf dem Dache bei den
Klängen des Trauermarsches ein.«
»Du mußt Schnaps trinken, unbedingt Schnaps trinken, und dann Selterswasser mit viel Zitrone«, meinte Jaschwin,
der über den liegenden Petrizki gebeugt dastand wie eine Mutter, die einem Kinde zuredet, eine Arznei einzunehmen.
»Und dann ein bißchen Champagner, etwa so ein Fläschchen.«
»Na, das ist ein verständiger Rat. Bleib doch noch hier, Wronski, und trink mit!«
»Nein. Auf Wiedersehen, meine Herren! Heute trinke ich nicht.«
»Du wirst wohl dadurch zu schwer? Na, dann trinken wir allein. Bring Selterswasser und Zitronen!«
»Wronski!« rief ihm einer noch nach, als er schon auf den Flur hinausging.
»Was?«
»Du solltest dir die Haare schneiden lassen; die machen dich sonst zu schwer, besonders auf der Glatze.«
Wronski bekam in der Tat vorzeitig einen kahlen Kopf. Er lachte vergnügt auf, wobei er seine vortrefflichen
Zähne zeigte, schob die Mütze auf den kahlen Kopf, ging hinaus und stieg in den Wagen.
»Nach dem Stall!« rief er dem Kutscher zu und wollte schon den Brief und den Zettel hervorholen, um sie
durchzulesen; aber dann änderte er seine Absicht, um nicht vor der Besichtigung des Pferdes seine Gedanken zu
zerstreuen. ›Nachher!‹ sagte er bei sich.
21
Der behelfsmäßige Stall, eine Bretterbude, war unmittelbar neben der Rennbahn eingerichtet, und dahin hatte sein
Pferd nach seiner Anordnung schon tags zuvor übergeführt werden sollen. Er hatte es noch nicht gesehen. In diesen
letzten Tagen hatte er das Tier nicht selbst zur Vorübung geritten, sondern den Trainer damit beauftragt, und jetzt
wußte er gar nicht, in welchem Zustand sein Pferd angekommen war und sich augenblicklich befand. Kaum war er aus
dem Wagen gestiegen, als sein Stallknecht, der sogenannte Junge, der seinen Wagen schon von weitem erkannt hatte,
den Trainer herausrief. Der dürre Engländer, in hohen Stiefeln und kurzer Jacke, rasiert bis auf einen Haarbüschel
am Kinn, kam ihm mit dem ungeschickten Gange der Jockeis, die Ellbogen auseinanderspreizend und sich hin und her
wiegend, entgegen.
»Nun, was macht Frou-Frou?« fragte Wronski auf englisch.
»All right, Sir!« sagte die Stimme des Engländers irgendwo im Inneren der Kehle. »Es ist besser, wenn Sie nicht
zu ihr gehen«, fügte er hinzu und lüftete seinen Hut. »Ich habe ihr den Kappzaum angelegt, und das Pferd ist
aufgeregt. Es ist besser, wenn Sie nicht hingehen; das beunruhigt das Pferd.«
»Nein, ich will doch hingehen. Ich möchte sie gern sehen.«
»Nun, dann kommen Sie«, erwiderte stirnrunzelnd der Engländer, immer in derselben Weise, ohne den Mund zu
öffnen, und ging, mit den Ellbogen umherarbeitend, mit seinem haltlosen Gange voran.
Sie betraten den kleinen Hof vor der Baracke. Der diensttuende Stallknecht, ein hübscher, strammer Bursche in
sauberer Jacke, mit einem Besen in der Hand, begrüßte die Eintretenden und schloß sich ihnen an. In der Baracke
standen fünf Pferde in den Boxen, und Wronski wußte, daß heute auch sein wichtigster Mitbewerber
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