Anna Karenina
ganzen
Leibe zitterte; nur mit Überwindung riß er sich von diesem Anblicke los und ging aus der Baracke hinaus. Er kam zu
den Tribünen gerade im geeignetsten Augenblick, als er niemandes Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Vier-Werst-Rennen
ging eben zu Ende, und aller Augen richteten sich auf den führenden Chevaliergardisten und den an zweiter Stelle
liegenden Leibhusaren, die beide mit letzter Kraft ihre Pferde antrieben und sich dem Pfosten näherten. Von der
Mitte und von außen her drängte alles nach dem Pfosten hin, und die dort stehende Gruppe von Soldaten und
Offizieren des Chevalier-Garderegiments drückte mit lautem Jubelgeschrei ihre Freude über den unerwarteten Sieg
ihres Offiziers und Kameraden aus. Wronski mischte sich unbemerkt mitten unter die Menge, fast in demselben
Augenblick, als das Glockenzeichen ertönte, das das Rennen als beendet erklärte, und der hochgewachsene, mit
Schmutz bespritzte Chevaliergardist, der Erster geworden war, sich auf den Sattel zurücksinken ließ und seinem
grauen, vom Schweiß ganz dunkel gewordenen, schwer atmenden Hengste die Zügel nachließ.
Der Hengst mäßigte den schnellen Lauf seines großen Körpers, indem er mit Anstrengung die Füße gegen den Boden
stemmte, und der Chevaliergardist blickte um sich, wie jemand, der aus einem schweren Traume erwacht, und lächelte
mühsam. Ein Schwarm von Freunden und anderen Zuschauern umringte ihn.
Wronski vermied absichtlich die bevorzugte, besonders vornehme Schar von Zuschauern, die sich in gemessenem und
doch ungezwungenem Benehmen vor den Tribünen bewegte und miteinander plauderte. Er hatte erkannt, daß sich dort
auch Frau Karenina und Betsy und die Frau seines Bruders befanden, und ging geflissentlich nicht zu ihnen hin, um
seine Gedanken nicht abzulenken. Aber fortwährend traf er auf Bekannte, die ihn anhielten, ihm Einzelheiten über
die erledigten Rennen erzählten und ihn fragten, warum er erst so spät gekommen sei.
Während die Sieger zur Empfangnahme der Preise in die Loge gerufen wurden und die Augen aller sich dorthin
wandten, trat Wronskis älterer Bruder Alexander, Oberst mit den Achselschnüren der Generaladjutanten, zu ihm, ein
Mann von mittlerer Gestalt, ebenso stämmig wie Alexei, aber schöner und von frischerer Gesichtsfarbe, mit roter
Nase und offenem, ehrlichem Trinkergesicht.
»Hast du mein Zettelchen bekommen?« fragte er. »Man trifft dich ja nie zu Hause.«
Alexander Wronski war trotz seinem lockeren Lebenswandel, wobei namentlich seine Trunksucht allgemein bekannt
war, ein vollendeter Hofmann.
Jetzt, als er mit seinem Bruder über eine ihm äußerst unangenehme Angelegenheit sprach und wußte, daß die Augen
vieler auf sie beide gerichtet sein konnten, zeigte er eine so freundlich lächelnde Miene, als ob er sich mit
seinem Bruder über irgendwelchen unwichtigen Gegenstand scherzend unterhielte.
»Ja, ich habe deinen Zettel erhalten und begreife wirklich nicht, worüber du, gerade du, dir Sorge machst«,
antwortete Alexei.
»Ich mache mir darüber Sorge, daß man mir soeben, wie etwas Bemerkenswertes, mitgeteilt hat, du seiest noch
nicht hier, und man habe dich am Montag in Peterhof gesehen.«
»Es gibt Angelegenheiten, die nur der Beurteilung der unmittelbar Beteiligten unterliegen, und die
Angelegenheit, um die du dir solche Sorge machst, ist von der Art.«
»Ja, aber dann darf man nicht Offizier oder Beamter sein und nicht ...«
»Ich bitte dich, mische dich nicht in meine Angelegenheiten. Damit ist die Sache erledigt.«
Alexei Wronskis finsteres Gesicht war blaß geworden, und sein vorstehender Unterkiefer bebte, was bei ihm nur
selten vorkam. Als sehr gutherziger Mensch wurde er selten zornig; aber wenn er es einmal wurde und sein Kinn zu
zittern begann, dann war er gefährlich, und das wußte auch Alexander Wronski. Aber dieser lächelte heiter.
»Ich hatte dir ja nur den Brief unserer Mutter übermitteln wollen. Antworte ihr und rege dich jetzt vor dem
Reiten nicht auf! Bonne chance!« fügte er lächelnd hinzu und ging von ihm weg.
Aber unmittelbar darauf wurde Wronski wieder durch eine freundschaftliche Anrede aufgehalten.
»Du willst wohl deine Freunde nicht kennen? Guten Tag, mon cher!« rief Stepan Arkadjewitsch, der auch hier,
mitten in all dieser Petersburger Pracht und Vornehmheit, nicht minder als in Moskau durch seine frische
Gesichtsfarbe und seinen glänzenden, auseinandergekämmten Backenbart auffiel. »Ich bin gestern
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