Anna Karenina
Persönlichkeit; und das war hier Matrona Filimonowna. Sie
beruhigte ihre Herrin, versicherte ihr, es werde sich alles schon wieder »einrenken« (das war ein Lieblingsausdruck
bei ihr, und von ihr hatte ihn Matwei erst übernommen), und griff selbst ohne Hast und Aufregung wacker mit zu.
Sie hatte sich sofort an die Frau des Verwalters herangemacht und gleich am ersten Tage mit ihr und dem
Verwalter unter den Akazien Tee getrunken und alle möglichen Wirtschaftsangelegenheiten durchgesprochen. Bald
bildete sich unter den Akazien ein von Matrona Filimonowna geleiteter Klub, und durch diesen Klub, dessen
Mitglieder die Frau des Verwalters, der Dorfschulze und der Gutsschreiber waren, wurden allmählich die
Schwierigkeiten des Daseins behoben, und nach einer Woche hatte sich tatsächlich alles »eingerenkt«. Das Dach war
ausgebessert, eine Gevatterin des Dorfschulzen als Köchin angenommen; Hühner waren gekauft; die Kühe hatten
angefangen Milch zu geben; die Lücken des Gartenzaunes waren durch Stangen geschlossen; der Zimmermann hatte eine
Wäschemangel angefertigt; an den Schränken waren Vorlegehaken angebracht, so daß sie sich nicht mehr von selbst
öffneten, und ein Plättbrett, mit Zeug von einem Soldatenmantel bezogen, ruhte nun mit dem einen Ende auf einer
Stuhllehne, mit dem andern auf einer Kommode, und in der Mädchenstube hatte es angefangen, nach heißen Plätteisen
zu riechen.
»Na, sehen Sie wohl? Und Sie waren schon ganz in Verzweiflung«, sagte Matrona Filimonowna, stolz auf das
Plättbrett weisend.
Sogar ein Badehäuschen wurde aus Rahmen mit Strohmatten erbaut. Lilly begann zu baden, und Darja Alexandrownas
Hoffnung auf ein wenn auch nicht ruhiges, so doch bequemes Leben auf dem Lande ging nun wenigstens teilweise in
Erfüllung. Ruhig, wirklich ruhig konnte Darja Alexandrowna mit ihren sechs Kindern überhaupt nicht sein. Das eine
wurde krank; ein anderes konnte krank werden; einem dritten fehlte irgend etwas an der Kleidung; ein viertes zeigte
Anzeichen eines schlechten Charakters, und so weiter. Zeiten der Ruhe kamen nur äußerst selten vor und waren immer
nur von ganz kurzer Dauer. Aber diese Geschäftigkeit und Unruhe bildete für Darja Alexandrowna das einzige mögliche
Glück. Wäre ihr Geist nicht in dieser Weise beschäftigt gewesen, so hätte sie nichts weiter gehabt als ihre
Gedanken an den Gatten, der sie nicht liebte. Und dazu kam noch dies: wie schwer auch die Befürchtung möglicher
Krankheiten, die Krankheiten selbst und der Kummer bei der Wahrnehmung von Anzeichen übler Neigungen der Kinder auf
der Mutter lasteten, so vergalten ihr doch schon jetzt die Kinder selbst alle ihre Bekümmernisse durch kleine
Freuden. Diese Freuden waren so klein, daß sie leicht unbeachtet blieben wie Goldkörner im Sande, und in schlimmen
Augenblicken sah die Mutter nur die Bekümmernisse, den Sand; aber es gab auch gute Augenblicke, in denen sie nur
die Freuden sah, nur das Gold.
Jetzt, in der Einsamkeit des Lebens auf dem Lande wurde sie sich dieser Freuden immer öfter und öfter bewußt.
Oft, wenn sie ihre Kinder ansah, machte sie alle möglichen Anstrengungen, um sich selbst zu der Überzeugung zu
bringen, daß sie sich irre und nach Mutterart von ihren Kindern zu sehr eingenommen sei; aber trotzdem konnte sie
nicht umhin, sich zu sagen, daß ihre Kinder doch ganz prächtige Kinder seien, alle sechs, jedes auf andere Art,
aber sämtlich Kinder, wie man sie selten findet – und sie war glücklich über sie und stolz auf sie.
8
Ende Mai, als alles schon mehr oder weniger in Ordnung gekommen war, erhielt Darja Alexandrowna von ihrem Manne
eine Antwort auf ihre Klagen über die auf dem Gute vorgefundenen Übelstände. Er bat sie in dem Briefe um
Verzeihung, daß er nicht alles bedacht habe, und versprach, sobald sich eine Möglichkeit dazu bieten werde, selbst
zu kommen. Aber eine solche Möglichkeit bot sich nicht, und so war sie bis Anfang Juni allein auf dem Gute.
In den Petri-Fasten, an einem Sonntage, fuhr Darja Alexandrowna zur Messe, um mit allen ihren Kindern das
Abendmahl zu nehmen. Sie hatte früher in vertraulichen philosophischen Gesprächen mit der Mutter, der zweiten
Schwester und Freundinnen diese sehr oft durch den freigeistigen Standpunkt, den sie der Religion gegenüber
einnahm, in Erstaunen versetzt. Sie hatte eine eigene, sonderbare Religion für sich und glaubte namentlich ganz
fest an eine Seelenwanderung, während sie sich um die
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