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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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ihm auf dem breiten, grasigen Fahrwege, auf dem er ging, ein vierspänniger
    Wagen entgegen, auf dem er mehrere Koffer erblickte. Die Deichselpferde drängten von den Geleisen nach der Deichsel
    zu; aber der geschickte Kutscher, der seitwärts auf dem Bocke saß, hielt die Deichsel zwischen den Geleisen, so daß
    die Räder auf den glatten Streifen liefen.
    Weiter hatte Ljewin auf nichts geachtet und blickte nun zerstreut in den Wagen hinein, ohne sich Gedanken
    darüber zu machen, wer da wohl gefahren kam.
    In einer Ecke des Wagens schlief eine alte Dame; am Fenster aber saß ein junges Mädchen, das offenbar eben erst
    aufgewacht war und mit beiden Händen die Bänder eines weißen Häubchens angefaßt hielt. Hellen, sinnenden Blicks,
    ganz erfüllt von einer schönen, bunten, inneren Gedankenwelt, die Ljewin fremd war, schaute sie über ihn hinweg in
    die Morgenröte.
    Gerade in dem Augenblicke, da diese Erscheinung bereits verschwand, blickten die treuherzigen Augen des jungen
    Mädchens ihn an. Sie erkannte ihn, und ein frohes Erstaunen leuchtete auf ihrem Gesichte auf.
    Er konnte sich nicht irren. Solche Augen gab es nur einmal auf der Welt. Es gab auf der ganzen Welt nur ein
    Wesen, das imstande war, für ihn alles Licht und seinen gesamten Lebensinhalt in sich zusammenzudrängen. Das war
    sie. Das war Kitty. Er sagte sich sofort, daß sie auf der Fahrt von der Eisenbahnstation nach Jerguschowo begriffen
    sei. Und alles, was ihn in dieser schlaflosen Nacht so erregt hatte, alle die Entschlüsse, die er gefaßt hatte, das
    alles war in einem Nu verschwunden. Nur mit Widerwillen erinnerte er sich an seinen Gedanken, ein Bauernmädchen zu
    heiraten. Dort allein, in diesem Wagen, der sich schnell entfernte und eben nach der andern Seite des Weges
    hinüberfuhr, dort allein war für ihn die Möglichkeit einer Lösung seines Lebensrätsels, das in der letzten Zeit mit
    so peinvollem Druck auf ihm gelastet hatte.
    Sie hatte nicht mehr aus dem Wagen herausgeschaut. Das Geräusch der Federn des Wagens war nicht mehr vernehmbar;
    kaum konnte Ljewin noch das Schellengeklingel hören. Hundegebell ließ ihn erkennen, daß der Wagen durch das Dorf
    fuhr – und nun waren wieder rings um ihn nur die menschenleeren Felder, vor ihm das Dorf, und er selbst, ein
    einsamer Fremdling, wanderte allein auf dem verwahrlosten, breiten Landwege dahin.
    Er blickte zum Himmel hinauf, in der Hoffnung, dort noch jene Muschel wiederzufinden, die er mit solcher Freude
    betrachtet hatte und die ihm eine Art von Sinnbild seines Denkens und Empfindens in dieser Nacht gewesen war. Aber
    am Himmel war nichts zu sehen, was mit einer Muschel Ähnlichkeit gehabt hätte. Dort in der unerreichbaren Höhe war
    bereits eine geheimnisvolle Veränderung vorgegangen. Von der Muschel war keine Spur mehr vorhanden, sondern über
    die ganze eine Hälfte des Himmels breitete sich ein gleichmäßiger Teppich immer kleiner und kleiner werdender
    Lämmerwölkchen aus. Der Himmel war blau und hell geworden und antwortete auf seinen fragenden Blick ebenso
    freundlich, aber auch ebenso unnahbar wie vorher.
    ›Nein‹, sagte er sich, ›mag auch dieses einfache, arbeitsvolle Leben noch so schön sein, ich kann doch zu diesem
    Gedanken nicht zurückkehren. Sie liebe ich, sie!‹

13
    Niemand außer den Allernächststehenden wußte, daß Alexei Alexandrowitsch, anscheinend ein so kühler
    Verstandesmensch, eine Schwäche hatte, die mit seinem ganzen sonstigen Wesen im Widerspruch zu stehen schien: er
    konnte es nicht ruhig mit anhören und mit ansehen, wenn ein Kind oder eine Frau weinte. Der Anblick von Tränen
    machte ihn verwirrt, und er verlor dann vollständig die Fähigkeit vernunftmäßiger Überlegung. Sein Subdirektor und
    sein Sekretär wußten das und warnten Bittstellerinnen, sie möchten unter keinen Umständen weinen, wenn sie nicht
    ihre ganze Sache verderben wollten. ›Er wird dann zornig und hört sie gar nicht weiter an‹, sagten sie zu solchen
    Damen. Und in der Tat bekundete sich in solchen Fällen die seelische Verstimmung, die bei Alexei Alexandrowitsch
    durch die Tränen hervorgerufen war, durch einen plötzlichen Zornesausbruch. ›Ich kann dabei nichts tun! Bitte,
    gehen Sie!‹ rief er in solchen Fällen gewöhnlich.
    Als Anna auf der Heimfahrt vom Wettrennen ihm ihre Beziehungen zu Wronski aufgedeckt hatte und unmittelbar
    darauf das Gesicht in den Händen verbarg und in Tränen ausbrach, da fühlte Alexei Alexandrowitsch trotz

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