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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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heute zum ersten Male kam ihm klar und deutlich
    der Gedanke, daß es ja nur von ihm abhänge, jenes drückende, müßige, gekünstelte, selbstsüchtige Leben, das er
    jetzt führte, aufzugeben und dafür dieses arbeitsame, reine, dem Gemeinwohle dienende, wundervolle Leben
    einzutauschen.
    Der Alte, der mit ihm auf dem Heuhaufen gesessen hatte, war schon längst nach Hause gegangen; das Arbeitervolk
    hatte sich geteilt. Die Näherwohnenden waren nach Hause gefahren; die Fernerwohnenden trafen auf der Wiese ihre
    Anstalten zum Abendessen und zum Nachtlager. Ljewin blieb, von ihnen unbemerkt, auf dem Heuhaufen liegen und fuhr
    fort, nach ihnen hinzuschauen und hinzuhören und seinen Gedanken nachzuhängen. Die Leute, die zum Übernachten auf
    der Wiese geblieben waren, schliefen während der kurzen Sommernacht fast gar nicht. Zuerst, während des
    Abendessens, hörte Ljewin ihr allgemeines, lustiges Geplauder und Gelächter; dann folgten wie der Lieder und wieder
    Lachen.
    Der ganze lange Arbeitstag hatte bei ihnen keine andere Wirkung hinterlassen, als daß er sie in die fröhlichste
    Stimmung versetzt hatte. Erst kurz vor der Morgenröte wurde alles still. Nur das nächtliche Quaken der
    unermüdlichen Frösche im Sumpfe war zu hören und das Schnauben der Pferde auf der Wiese in dem Nebel, der vor dem
    Anbruch des Tages aufsteigt. Ljewin ermunterte sich, erhob sich von seinem Heuhaufen, und ein Blick nach den
    Sternen zeigte ihm, daß die Nacht vergangen war.
    ›Was werde ich also tun? Und wie werde ich es tun?‹ sagte er zu sich selbst, in dem Bemühen, zu seinem eigenen
    Nutzen einen klaren Ausdruck für das zu finden, was er in dieser kurzen Nacht gedacht und empfunden hatte. Alle
    diese Gedanken und Empfindungen verteilten sich auf drei voneinander gesonderte Gedankengänge. Der erste betraf die
    Abkehr von seinem alten Leben und von seiner Bildung, die niemandem etwas nützte. Diese Abkehr gewährte ihm schon
    in der Vorstellung einen großen Genuß, und ihre Durchführung erschien ihm leicht und einfach. Die zweite Gruppe von
    Gedanken und Vorstellungen betraf das Leben, das er von nun an zu führen wünschte. Daß es ein schlichtes, reines,
    streng rechtliches Leben sein müsse, fühlte er mit vollster Klarheit, und er war überzeugt, daß er in ihm diejenige
    Befriedigung, Gemütsruhe und selbstbewußte Festigkeit finden werde, deren Mangel er jetzt so schmerzlich empfand.
    Sein dritter Gedankengang jedoch bezog sich auf die Frage, wie sich dieser Übergang vom alten zum neuen Leben
    bewerkstelligen lasse. Und hierüber vermochte er schlechterdings nicht zur Klarheit zu kommen. ›Ich muß heiraten.
    Ich muß eine Arbeit haben und einen äußeren Zwang zur Arbeit. Soll ich Pokrowskoje verlassen? Anderswo Land kaufen?
    Mich in eine Bauerngemeinde aufnehmen lassen? Ein Bauernmädchen heiraten? Wie soll ich es angreifen?‹ fragte er
    sich von neuem und fand darauf keine Antwort. ›Übrigens habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und bin daher
    jetzt nicht imstande, mir über solche Dinge klare Rechenschaft zu geben‹, sagte er zu sich. ›Darüber werde ich
    später schon ins klare kommen. Aber eins ist sicher: diese Nacht hat über mein Schicksal entschieden. Alle meine
    früheren Träumereien von der Gestaltung des Familienlebens sind töricht, sind nicht das Richtige‹, sagte er zu
    sich. ›Das läßt sich alles weit einfacher und besser ausführen ...‹
    ›Wie schön!‹ dachte er, als er auf einmal ein seltsames Gebilde von weißen Lämmerwölkchen erblickte, das, einer
    Perlmuttermuschel ähnlich, gerade über seinem Kopfe mitten am Himmel stand. ›Wie entzückend alles in dieser
    wundervollen Nacht ist! Wann hat sich nur diese Muschel gebildet? Ich habe doch noch eben erst zum Himmel
    hinaufgesehen, und da war an ihm nichts vorhanden als zwei weiße Streifen. Ja, ganz ebenso unvermerkt haben sich
    auch meine Lebensanschauungen geändert!‹
    Er verließ die Wiese und schritt auf dem breiten Landwege dem Dorfe zu. Ein leichter Wind erhob sich, und der
    Himmel wurde grau und düster. Es kam jetzt die trübe Spanne Zeit, die gewöhnlich der Morgendämmerung und dem vollen
    Siege des Lichtes über die Finsternis vorangeht.
    Vor Kälte sich ein wenig zusammenkrümmend, den Blick auf den Boden geheftet, schritt Ljewin hurtig aus. ›Was ist
    das? Da kommt jemand gefahren!‹ dachte er, als er Schellengeläute hörte, und hob den Kopf in die Höhe. Etwa noch
    vierzig Schritte von ihm entfernt kam

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