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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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des
    Ingrimms, der in seinem Herzen gegen sie aufwallte, doch gleichzeitig, daß wieder jene seelische Verwirrung über
    ihn kam, die Tränen stets bei ihm hervorriefen. Da er dies wußte und sich bewußt war, daß er in diesem Augenblicke
    nicht imstande sei, seine Gefühle in einer der Lage entsprechenden Weise zum Ausdruck zu bringen, so gab er sich
    Mühe, jede Lebensäußerung zurückzuhalten, und deshalb rührte er sich nicht und sah Anna nicht an. Und daher kam
    denn auch der sonderbare, leichenhafte Ausdruck seines Gesichtes, der Anna so betroffen machte.
    Als sie bei dem Landhause angelangt waren, half er ihr beim Aussteigen aus dem Wagen, zwang sich dazu, mit
    gewohnter Höflichkeit von ihr Abschied zu nehmen, und sagte ihr einige Worte, durch die er sich in keiner Weise
    band: er sagte, er werde ihr am folgenden Tage seinen Entschluß mitteilen.
    Die Worte seiner Frau, die seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten, hatten Alexei Alexandrowitschs Herz sich
    in furchtbarem Schmerze zusammenziehen lassen. Diesen Schmerz steigerte noch das durch ihre Tränen bei ihm
    hervorgerufene sonderbare Gefühl eines physischen Mitleids mit ihr. Aber als Alexei Alexandrowitsch im Wagen allein
    geblieben war, fühlte er zu seiner Verwunderung und Freude eine vollständige Befreiung sowohl von diesem Mitleid
    wie auch von den Zweifeln und den Qualen der Eifersucht, die ihn in der letzten Zeit gepeinigt hatten.
    Er hatte eine ähnliche Empfindung wie jemand, der sich einen Zahn, der ihn lange geschmerzt hat, endlich hat
    ausziehen lassen. Nach einem furchtbaren Schmerze und nach einer Empfindung, als werde etwas ungeheuer Großes,
    größer als der Kopf selbst, aus seiner Kinnlade herausgerissen, fühlt der Patient, der an sein Glück noch gar nicht
    recht zu glauben wagt, auf einmal, daß das, was ihm so lange das Leben verbitterte und ihn an nichts anderes denken
    ließ, nicht mehr in seinem Munde vorhanden ist und daß er wieder leben und denken und sich wieder für andere Dinge,
    als immer nur für seinen Zahn, interessieren kann. Eine derartige Empfindung machte Alexei Alexandrowitsch durch.
    Der Schmerz war seltsam und furchtbar gewesen; aber jetzt war er vorbei; Alexei Alexandrowitsch fühlte, daß er
    wieder leben könne, ohne immer nur an seine Frau zu denken.
    ›Ein verworfenes Weib ohne Gefühl für Ehre und Anstand, ohne Herz, ohne Religion! Das habe ich immer gewußt und
    immer gesehen, obgleich ich aus Mitleid mit ihr mir Mühe gab, mich selbst zu täuschen‹, sagte er zu sich. Und er
    hatte wirklich die Vorstellung, daß er das immer gesehen habe; er erinnerte sich an kleine Vorfälle aus den
    früheren Zeiten der Ehe, die ihm damals nicht als etwas Schlimmes erschienen waren; jetzt aber bewiesen diese
    Vorfälle deutlich, daß sie von jeher ein grundschlechtes Weib gewesen war. ›Ich bin in einem Irrtum befangen
    gewesen, als ich mein Leben mit dem ihrigen verknüpfte; aber in meinem Irrtum liegt nichts moralisch Schlechtes,
    und daher kann ich nicht unglücklich sein. Nicht ich bin schuldig‹, sagte er zu sich, ›sondern sie. Aber ich habe
    mit ihr nichts mehr zu tun. Sie ist für mich nicht mehr vorhanden.‹
    Was nun weiter mit ihr und dem Sohne geschehen werde, gegen den sich seine Gefühle ebenso wie gegen sie
    verwandelt hatten, das kümmerte ihn nicht mehr. Das einzige, was ihn jetzt beschäftigte, war die Frage, wie er auf
    die beste, anständigste, für ihn selbst bequemste und daher gerechteste Weise den Schmutz, mit dem sie ihn durch
    ihren Fall bespritzt habe, von sich abschütteln und dann seinen arbeitsvollen, ehrenhaften, der Menschheit
    nützlichen Lebensweg fortsetzen könne.
    ›Ich kann dadurch nicht unglücklich werden, daß ein verachtenswertes Weib ein Verbrechen begangen hat; es kommt
    nur darauf an, den besten Ausweg aus der schwierigen Lage zu finden, in die sie mich versetzt hat. Und ich werde
    ihn finden‹, sagte er zu sich, indem er die Stirn immer mehr in Falten zog. ›Ich bin nicht der erste und werde
    nicht der letzte sein.‹ Und ganz abgesehen von den aus der Weltgeschichte zu entnehmenden Beispielen, von Menelaus
    an, der durch die Schöne Helena damals allen wieder von neuem ins Gedächtnis zurückgerufen war, vergegenwärtigte
    Alexei Alexandrowitsch sich eine ganze Reihe von Fällen aus der Gegenwart, in denen Frauen aus den höchsten
    Gesellschaftskreisen ihren Männern untreu geworden waren. ›Darjalow, Poltawski, Fürst Karibanow, Graf Paskudin,
    Dram ...

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