Anna Karenina
aber
wirklich etwas nicht in guter Ordnung sei, so komme das lediglich daher, daß Alexei Alexandrowitschs Ministerium
die durch das Gesetz vorgeschriebenen Maßregeln nicht zur Anwendung gebracht habe. Jetzt also beabsichtigte Alexei
Alexandrowitsch folgendes zu fordern; erstens, es solle eine neue Kommission eingesetzt werden mit dem Auftrage,
den Zustand der Fremdvölker an Ort und Stelle zu untersuchen; zweitens, wenn es sich erweise, daß die Lage der
Fremdvölker tatsächlich eine solche sei, wie sie nach den in den Händen des Komitees befindlichen amtlichen
Unterlagen erscheine, so solle noch eine andere, neue, wissenschaftliche Kommission gebildet werden zur
Untersuchung der Ursachen dieses unerfreulichen Zustandes der Fremdvölker, und zwar von folgenden Gesichtspunkten
aus: a) vom politischen, b) vom administrativen, c) vom ökonomischen, d) vom ethnographischen, e) vom materiellen
und f) vom religiösen; drittens, es solle dem feindlichen Ministerium aufgegeben werden, einen Bericht vorzulegen
über die Maßregeln, die dieses Ministerium während der letzten zehn Jahre zur Verhütung der ungünstigen
Verhältnisse getroffen habe, in denen sich die Fremdvölker jetzt befänden; und endlich viertens, das Ministerium
solle zu einer Erklärung darüber aufgefordert werden, weshalb es, wie sich aus den dem Komitee zugegangenen
Berichten unter Nr. 17015 und Nr. 18308 vom 5. Dezember 1863 und vom 7. Juni 1864 ergebe, dem Sinne des organischen
Grundgesetzes, Band ... Artikel 18 und Artikel 36 Anmerkung, direkt zuwidergehandelt habe. Die Röte lebhafter
Erregung überzog Alexei Alexandrowitschs Gesicht, als er sich schnell eine kurze Übersicht dieser Gedanken
niederschrieb. Nachdem er einen Bogen vollgeschrieben hatte, stand er auf und klingelte; dann schrieb er einen
Zettel und schickte ihn an den Subdirektor, um sich die Auskünfte zu verschaffen, deren er noch bedurfte. Nun stand
er wieder auf, ging im Zimmer auf und ab, blickte nochmals nach dem Bild, zog die Brauen zusammen und lächelte
geringschätzig. Darauf las er noch ein Weilchen in dem Buche über die Eugubinischen Inschriften, für die er wieder
Interesse gewann. Um elf Uhr ging er schlafen, und als er, im Bett liegend, sich den Vorfall mit seiner Frau ins
Gedächtnis zurückrief, da erschien er ihm gar nicht mehr in so trübem Lichte.
15
Anna hatte zwar hartnäckig und erregt widersprochen, als Wronski ihr gesagt hatte, daß ihre Lage auf die Dauer
unmöglich sei; aber in der Tiefe ihrer Seele hatte doch auch sie ihre Lage für unwahrhaft und unehrenhaft gehalten
und von ganzem Herzen gewünscht, sie zu ändern. Als sie dann mit ihrem Manne vom Rennen nach Hause fuhr, hatte sie
ihm in einem Augenblicke der Aufwallung alles gesagt und war trotz des Schmerzes, den sie dabei empfunden hatte,
froh gewesen, es getan zu haben. Nachdem dann ihr Mann sie allein gelassen, hatte sie sich gesagt, sie sei froh,
daß jetzt alles ins klare komme und wenigstens die Lüge und Verstellung aufhöre. Es war ihr als zweifellos
erschienen, daß jetzt ihre Lage für immer geregelt werden würde. Sie hatte sich gesagt, diese neue Lage könne ja
möglicherweise übel sein; aber sie werde doch geregelt sein und frei von Unklarheit und Lüge. Der Schmerz, den sie
sich und ihrem Mann dadurch bereitet habe, daß sie so offen gesprochen habe, werde jetzt dadurch wieder
ausgeglichen werden, daß nun alles in einen geregelten Zustand komme. An diesem Abend hatte sie dann noch ein
Zusammensein mit Wronski gehabt, hatte ihm aber nicht gesagt, was zwischen ihr und ihrem Manne vorgegangen war,
obgleich sie zur Klärung und Regelung der Lage es ihm hätte sagen müssen.
Als sie am anderen Morgen aufwachte, waren die Worte, die sie zu ihrem Manne gesprochen hatte, das erste, was
ihr in den Sinn kam, und diese Worte erschienen ihr so schrecklich, daß sie jetzt gar nicht begreifen konnte, wie
sie es hatte über sich gewinnen können, diese seltsamen, rohen Worte auszusprechen, so schrecklich, daß sie sich
nicht vorzustellen vermochte, was nun die Folge sein werde. Aber gesprochen waren die Worte nun einmal, und Alexei
Alexandrowitsch war weggefahren, ohne etwas gesagt zu haben. ›Ich habe Wronski gesehen‹, sagte sich Anna, ›und ihm
nichts davon gesagt. Noch in dem Augenblicke, als er fortging, wollte ich ihn zurückrufen und es ihm sagen; aber
ich gab diese Absicht wieder auf, weil er es doch seltsam gefunden hätte, daß ich es ihm nicht
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