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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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letzten Unterredung sagte ich Ihnen, daß ich die Absicht hätte, Ihnen meinen Entschluß über den
    Gegenstand unseres Gespräches mitzuteilen. Nachdem ich alles sorgsam durchdacht habe, schreibe ich jetzt, um dieses
    Versprechen zu erfüllen. Mein Entschluß ist folgender: von welcher Art auch immer Ihr Verhalten gewesen sein mag,
    so halte ich mich doch nicht für berechtigt, die heiligen Bande zu zerreißen, mit denen eine höhere Macht uns
    verknüpft hat. Die Zusammengehörigkeit der Familie kann nicht durch eine Laune, durch die Willkür, ja nicht einmal
    durch ein Verbrechen eines der Gatten zerstört werden, und unser Leben muß auch in Zukunft denselben Gang nehmen,
    den es bisher genommen hat. Dies ist um meinetwillen, um Ihretwillen und um unseres Sohnes willen notwendig. Ich
    bin der festen Überzeugung, daß Sie das, was den Anlaß des vorliegenden Briefes bildet, bereut haben und noch
    bereuen, und daß Sie mir helfen werden, die Ursache unseres Zwistes mit der Wurzel auszureißen und das Vergangene
    zu vergessen. Andernfalls werden Sie sich selbst sagen können, was Sie und Ihren Sohn erwartet. Ich hoffe, daß ich
    bei einer persönlichen Zusammenkunft alles dies eingehender mit Ihnen werde besprechen können. Da die Hauptzeit für
    die Sommerfrische zu Ende geht, so möchte ich Sie bitten, möglichst bald, jedenfalls nicht später als Dienstag,
    wieder nach Petersburg überzusiedeln. Alle für Ihren Umzug erforderlichen Anordnungen werden getroffen werden. Ich
    bitte Sie zu beachten, daß ich auf die Erfüllung dieser meiner Bitte besonderen Wert lege.
    A. Karenin
    PS. Anbei eine Geldsumme, die Sie für Ihre Ausgaben vielleicht benötigen werden.«
    Er las den Brief noch einmal durch und war mit ihm zufrieden, namentlich auch damit, daß er daran gedacht hatte,
    Geld beizufügen; der Brief enthielt kein scharfes Wort und keinen Vorwurf, war aber auch nicht in freundlichem Tone
    gehalten. Die Hauptsache aber war: er hatte damit seiner Frau eine goldene Brücke zur Rückkehr gebaut. Er faltete
    den Brief zusammen, strich ihn mit einem großen, kräftigen, elfenbeinernen Papiermesser glatt und steckte ihn mit
    den Banknoten in einen Umschlag; all das tat er mit jenem Behagen, das die Handhabung seiner vorzüglich
    beschaffenen Schreibgeräte immer bei ihm hervorrief. Darauf klingelte er.
    »Gib das dem Kurier, damit er es morgen zu Anna Arkadjewna nach dem Landhause hinausbringt!« sagte er und erhob
    sich.
    »Zu Befehl, Exzellenz. Befehlen Sie den Tee hier im Arbeitszimmer?«
    Alexei Alexandrowitsch befahl, den Tee ins Arbeitszimmer zu bringen, und ging, indem er das kräftige
    Papiermesser spielend in der Hand bewegte, zu einem Lehnsessel, neben dem auf einem Tische eine Lampe brannte und
    ein französisches Buch über die Eugubinischen Inschriften lag, dessen Lektüre er begonnen hatte. Über dem Sessel
    hing in einem ovalen Goldrahmen ein Bild Annas, von einem berühmten Künstler vorzüglich ausgeführt. Alexei
    Alexandrowitsch betrachtete es. Die rätselhaften Augen blickten ihn spöttisch und keck an, wie an jenem letzten
    Abend, als er ihr Vorhaltungen gemacht hatte. Unerträglich keck und herausfordernd wirkte auf Alexei
    Alexandrowitsch der Anblick der von dem Künstler vortrefflich gemalten schwarzen Spitzen auf dem Kopfe sowie der
    Anblick des schwarzen Haars und der weißen, schönen Hand mit dem von Ringen bedeckten Goldfinger. Nachdem Alexei
    Alexandrowitsch das Bild etwa eine Minute lang angesehen hatte, schauerte er so zusammen, daß seine Lippen einen
    Laut des Unwillens hervorbrachten. Er wendete sich ab, setzte sich eilig in den Sessel und öffnete das Buch. Er
    versuchte zu lesen, vermochte aber nicht das Interesse für die Eugubinischen Inschriften wiederzugewinnen, das
    vorher bei ihm so lebendig gewesen war. Er blickte in das Buch hinein und dachte an ganz andere Dinge. Er dachte
    aber nicht an seine Frau, sondern an eine hemmende Schwierigkeit, die vor kurzem in seiner staatsmännischen
    Tätigkeit eingetreten war und ihn jetzt in höherem Grade als alle seine anderen dienstlichen Angelegenheiten in
    Anspruch nahm. Er fühlte, daß er jetzt tiefer als je mit seinem Verstande in diesen schwierigen Fall eindrang und
    daß in seinem Kopfe ein (das konnte er ohne Selbstüberhebung sagen) ausgezeichneter Gedanke in der Bildung
    begriffen war, der diese ganze Angelegenheit entwirren, ihn in seiner dienstlichen Laufbahn fördern, seine Feinde
    zu Boden schmettern und somit auch dem

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