Anna Karenina
Scheidung, eine Trennung
in die Waagschale fiel, und von neuem all diese drei Wege verworfen hatte, gelangte er zu der Überzeugung, daß es
nur einen Ausweg gebe: sie bei sich zu behalten, das Geschehene vor der Welt zu verbergen und alle in seiner Macht
liegenden Maßregeln zur Anwendung zu bringen, um jener Liebschaft ein Ende zu machen und (dies war der Hauptzweck,
den er sich aber nicht eingestand) sie zu bestrafen. ›Ich muß ihr als meinen Entschluß eröffnen, daß ich nach
Erwägung der schwierigen Lage, in die die Familie durch sie gekommen ist, alle anderen Wege dem Interesse beider
Seiten für nachteiliger erachten muß als die Bewahrung des äußeren Status quo, und daß ich mit dessen Bewahrung
einverstanden sein will, aber nur unter der strengen Bedingung, daß sie ihrerseits meine Forderung erfüllt, ihr
Verhältnis zu ihrem Liebhaber zu lösen.‹ Nachdem Alexei Alexandrowitsch diesen Beschluß bereits endgültig gefaßt
hatte, fiel ihm noch ein wichtiger Umstand ein, der ihn noch darin bestärkte. ›Nur bei einem solchen Verfahren‹,
sagte er sich, ›werde ich auch in Übereinstimmung mit den Geboten der Religion handeln; nur bei diesem Verfahren
stoße ich das verbrecherische Weib nicht von mir, sondern gebe ihr die Möglichkeit, sich zu bessern; ja, ich will
sogar, so schwer es mir auch werden mag, einen Teil meiner Kraft ihrer Besserung und Rettung widmen.‹ Obgleich
Alexei Alexandrowitsch wußte, daß er keine moralische Einwirkung auf seine Frau auszuüben in der Lage war, und daß
dieser ganze Besserungsversuch lediglich auf Unwahrhaftigkeit und Verstellung hinauslaufen werde, und obgleich er
in den schweren Augenblicken, die er jetzt durchlebte, auch nicht ein einziges Mal daran gedacht hatte, in der
Religion eine Richtschnur zu suchen, so gewährte ihm doch jetzt, wo sein Entschluß nach seiner Ansicht mit den
Forderungen der Religion zusammenfiel, diese religiöse Bestätigung seines Entschlusses eine große Befriedigung und
beruhigte ihn sogar zum Teil. Es war ihm angenehm zu denken, daß auch bei einer so ernsten Lebensangelegenheit
niemand werde sagen können, er habe nicht gemäß den Geboten jener Religion gehandelt, deren Fahne er inmitten der
allgemeinen Erkaltung und Gleichgültigkeit stets hochgehalten hatte. Bei weiterer eingehender Überlegung vermochte
Alexei Alexandrowitsch nicht einmal abzusehen, warum sein Verhältnis zu seiner Frau nicht beinahe dasselbe bleiben
könne wie bisher. Allerdings werde er zweifellos nie imstande sein, ihr seine Achtung wieder zuzuwenden; aber
seiner Ansicht nach gab es keinen Grund und konnte auch keinen geben, weshalb er leiden und sich sein Leben
zerstören sollte, nur weil sie eine schlechte, treulose Gattin war. ›Ja, es wird die Zeit dahinwandeln, die alles
ausgleichende Zeit, und unsere Beziehungen werden wieder die früheren werden‹, sagte sich Alexei Alexandrowitsch,
›wenigstens insoweit, daß ich keine Störung im ruhigen Flusse meines Lebens empfinde. Sie wird notwendigerweise
unglücklich sein; aber ich habe keine Schuld, und daher kann ich nicht unglücklich sein.‹
14
Als Alexei Alexandrowitsch in Petersburg ankam, war er nicht nur in diesem Entschlusse vollkommen fest geworden,
sondern er hatte auch bereits in seinem Kopfe den Brief entworfen, den er an seine Frau schreiben wollte. In die
Loge des Pförtners tretend, warf er einen Blick auf die eingegangenen Briefe und die aus dem Ministerium
geschickten Akten und gab Befehl, alles nach seinem Arbeitszimmer zu bringen.
»Ausspannen und niemand vorlassen!« antwortete er auf die Frage des Pförtners mit einem gewissen Behagen, aus
dem man auf seine gute Stimmung schließen konnte; einen besonderen Nachdruck legte er dabei auf die Worte: »Niemand
vorlassen!«
In seinem Arbeitszimmer ging Alexei Alexandrowitsch zweimal auf und ab und blieb dann vor seinem gewaltigen
Schreibtische stehen, auf dem der Kammerdiener, sobald er ihn hatte vorfahren sehen, bereits sechs Kerzen
angezündet hatte, knackte mit den Fingern, setzte sich und legte Papier und Feder zurecht. Die Ellbogen auf den
Tisch stützend, neigte er den Kopf zur Seite, dachte etwa eine Minute lang nach und begann dann zu schreiben, ohne
auch nur eine Sekunde innezuhalten. Er schrieb, ohne sich einer Anrede an seine Frau zu bedienen, und zwar
französisch, wobei er das Fürwort vous verwendete, das nicht so kalt klingt wie das entsprechende russische
Fürwort.
»Bei unserer
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