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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Scheidung, eine Trennung
    in die Waagschale fiel, und von neuem all diese drei Wege verworfen hatte, gelangte er zu der Überzeugung, daß es
    nur einen Ausweg gebe: sie bei sich zu behalten, das Geschehene vor der Welt zu verbergen und alle in seiner Macht
    liegenden Maßregeln zur Anwendung zu bringen, um jener Liebschaft ein Ende zu machen und (dies war der Hauptzweck,
    den er sich aber nicht eingestand) sie zu bestrafen. ›Ich muß ihr als meinen Entschluß eröffnen, daß ich nach
    Erwägung der schwierigen Lage, in die die Familie durch sie gekommen ist, alle anderen Wege dem Interesse beider
    Seiten für nachteiliger erachten muß als die Bewahrung des äußeren Status quo, und daß ich mit dessen Bewahrung
    einverstanden sein will, aber nur unter der strengen Bedingung, daß sie ihrerseits meine Forderung erfüllt, ihr
    Verhältnis zu ihrem Liebhaber zu lösen.‹ Nachdem Alexei Alexandrowitsch diesen Beschluß bereits endgültig gefaßt
    hatte, fiel ihm noch ein wichtiger Umstand ein, der ihn noch darin bestärkte. ›Nur bei einem solchen Verfahren‹,
    sagte er sich, ›werde ich auch in Übereinstimmung mit den Geboten der Religion handeln; nur bei diesem Verfahren
    stoße ich das verbrecherische Weib nicht von mir, sondern gebe ihr die Möglichkeit, sich zu bessern; ja, ich will
    sogar, so schwer es mir auch werden mag, einen Teil meiner Kraft ihrer Besserung und Rettung widmen.‹ Obgleich
    Alexei Alexandrowitsch wußte, daß er keine moralische Einwirkung auf seine Frau auszuüben in der Lage war, und daß
    dieser ganze Besserungsversuch lediglich auf Unwahrhaftigkeit und Verstellung hinauslaufen werde, und obgleich er
    in den schweren Augenblicken, die er jetzt durchlebte, auch nicht ein einziges Mal daran gedacht hatte, in der
    Religion eine Richtschnur zu suchen, so gewährte ihm doch jetzt, wo sein Entschluß nach seiner Ansicht mit den
    Forderungen der Religion zusammenfiel, diese religiöse Bestätigung seines Entschlusses eine große Befriedigung und
    beruhigte ihn sogar zum Teil. Es war ihm angenehm zu denken, daß auch bei einer so ernsten Lebensangelegenheit
    niemand werde sagen können, er habe nicht gemäß den Geboten jener Religion gehandelt, deren Fahne er inmitten der
    allgemeinen Erkaltung und Gleichgültigkeit stets hochgehalten hatte. Bei weiterer eingehender Überlegung vermochte
    Alexei Alexandrowitsch nicht einmal abzusehen, warum sein Verhältnis zu seiner Frau nicht beinahe dasselbe bleiben
    könne wie bisher. Allerdings werde er zweifellos nie imstande sein, ihr seine Achtung wieder zuzuwenden; aber
    seiner Ansicht nach gab es keinen Grund und konnte auch keinen geben, weshalb er leiden und sich sein Leben
    zerstören sollte, nur weil sie eine schlechte, treulose Gattin war. ›Ja, es wird die Zeit dahinwandeln, die alles
    ausgleichende Zeit, und unsere Beziehungen werden wieder die früheren werden‹, sagte sich Alexei Alexandrowitsch,
    ›wenigstens insoweit, daß ich keine Störung im ruhigen Flusse meines Lebens empfinde. Sie wird notwendigerweise
    unglücklich sein; aber ich habe keine Schuld, und daher kann ich nicht unglücklich sein.‹

14
    Als Alexei Alexandrowitsch in Petersburg ankam, war er nicht nur in diesem Entschlusse vollkommen fest geworden,
    sondern er hatte auch bereits in seinem Kopfe den Brief entworfen, den er an seine Frau schreiben wollte. In die
    Loge des Pförtners tretend, warf er einen Blick auf die eingegangenen Briefe und die aus dem Ministerium
    geschickten Akten und gab Befehl, alles nach seinem Arbeitszimmer zu bringen.
    »Ausspannen und niemand vorlassen!« antwortete er auf die Frage des Pförtners mit einem gewissen Behagen, aus
    dem man auf seine gute Stimmung schließen konnte; einen besonderen Nachdruck legte er dabei auf die Worte: »Niemand
    vorlassen!«
    In seinem Arbeitszimmer ging Alexei Alexandrowitsch zweimal auf und ab und blieb dann vor seinem gewaltigen
    Schreibtische stehen, auf dem der Kammerdiener, sobald er ihn hatte vorfahren sehen, bereits sechs Kerzen
    angezündet hatte, knackte mit den Fingern, setzte sich und legte Papier und Feder zurecht. Die Ellbogen auf den
    Tisch stützend, neigte er den Kopf zur Seite, dachte etwa eine Minute lang nach und begann dann zu schreiben, ohne
    auch nur eine Sekunde innezuhalten. Er schrieb, ohne sich einer Anrede an seine Frau zu bedienen, und zwar
    französisch, wobei er das Fürwort vous verwendete, das nicht so kalt klingt wie das entsprechende russische
    Fürwort.
    »Bei unserer

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