Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
gleich im ersten
    Augenblick gesagt hatte. Wie kam das nur, daß ich es ihm zwar sagen wollte, es ihm aber doch nicht sagte?‹ Und als
    Antwort auf diese Frage übergoß glühende Schamröte ihr Gesicht. Sie sah ein, was sie davon zurückgehalten hatte;
    sie sah ein, daß es die Scham gewesen war. Ihre Lage, die sie am Abende des vorhergehenden Tages für geklärt
    gehalten hatte, erschien ihr jetzt auf einmal nicht nur als noch ganz ungeklärt, sondern geradezu als verzweifelt.
    Sie fürchtete die Schande, an die sie früher überhaupt nicht gedacht hatte. Und als sie jetzt überdachte, was ihr
    Mann wohl tun könne, da kamen ihr die schrecklichsten Vermutungen. Es kam ihr der Gedanke, es werde unverzüglich
    der Geschäftsführer erscheinen und sie aus dem Hause treiben, und so werde dann ihre Schande der ganzen Welt
    offenbar werden. Sie fragte sich, wohin sie sich begeben solle, wenn man sie aus dem Hause triebe, und fand auf
    diese Frage keine Antwort.
    Wenn sie an Wronski dachte, so hatte sie jetzt die Vorstellung, er liebe sie nicht mehr, er fange schon an, sie
    als eine Last zu betrachten, und ihr Stolz raunte ihr zu, sie könne sich ihm doch nicht anbieten; so erwachte in
    ihr geradezu ein Gefühl der Feindschaft gegen ihn. Es war ihr, als ob sie die Worte, die sie zu ihrem Manne gesagt
    hatte und die sie sich in Gedanken unaufhörlich wiederholte, zu allen Menschen gesagt hätte, und als ob alle
    Menschen sie gehört hätten. Sie wagte nicht, den Leuten, die sie um sich hatte, in die Augen zu sehen; sie wagte
    nicht, ihre Kammerjungfer zu rufen, und noch weniger, hinunterzugehen und ihrem Sohne und seiner Gouvernante
    gegenüberzutreten.
    Die Kammerjungfer, die schon lange an der Tür gehorcht hatte, kam nun von selbst zu ihr ins Zimmer. Anna blickte
    ihr fragend in die Augen und errötete erschrocken. Die Kammerjungfer bat um Entschuldigung, daß sie hereingekommen
    sei; sie habe geglaubt, es sei geklingelt worden. Sie brachte ein Kleid und ein Briefchen. Das Briefchen war von
    Betsy. Betsy erinnerte sie daran, daß an diesem Vormittage Lisa Merkalowa und die Baronin Stoltz mit den beiden
    Verehrern jener, dem Fürsten Kaluschski und dem alten Stremow, sich zu einer Krocketpartie bei ihr zusammenfinden
    würden. »Kommen Sie wenigstens zum Zusehen, zum Zwecke des Studiums der Sittenlehre. Ich erwarte Sie«, schloß
    sie.
    Anna las das Briefchen und seufzte schwer.
    »Ich brauche weiter nichts«, sagte sie zu Annuschka, die damit beschäftigt war, die Fläschchen und Bürsten auf
    dem Toilettentische handlich zu ordnen. »Geh nur; ich werde mich gleich anziehen und hinunterkommen. Ich brauche
    nichts weiter.«
    Annuschka ging hinaus; Anna aber kleidete sich nicht an, sondern blieb in derselben Haltung, mit gesenktem Kopfe
    und schlaff herabhängenden Armen, sitzen; ab und zu zuckte sie mit dem ganzen Körper zusammen, als ob sie eine
    Handbewegung machen, etwas sagen wollte; aber sofort versank sie auch wieder in denselben Zustand der Starrheit.
    Sie wiederholte unaufhörlich: ›Mein Gott! Mein Gott!‹ Aber weder das Wort Gott noch das Wort mein hatte für sie
    irgendwelchen Sinn. Der Gedanke, für ihre Lage Hilfe in der Religion zu suchen, war ihr, obgleich ihr nie Zweifel
    an der Religion gekommen waren, in der man sie erzogen hatte, doch genau ebenso fremd wie der, bei Alexei
    Alexandrowitsch selbst Hilfe zu suchen. Sie wußte im voraus, daß Hilfe durch die Religion für sie nur unter der
    Bedingung möglich sei, daß sie auf das verzichtete, was doch für sie den gesamten Lebensinhalt ausmachte. Es war
    ihr nicht nur schwer ums Herz, sondern sie begann sich auch vor diesem neuen Seelenzustande, den sie bisher noch
    nie kennengelernt hatte, zu fürchten. Sie hatte eine Empfindung, als ob sich in ihrer Seele alles verdoppele, so
    wie sich mitunter vor ermüdeten Augen die Gegenstände verdoppeln. Sie wußte zeitweilig nicht, was sie eigentlich
    fürchtete und was sie eigentlich wünschte. Ob sie das, was war, oder das, was die Zukunft bringen werde, fürchtete
    und wünschte und was sie denn nun eigentlich wünschte, das wußte sie nicht.
    ›Ach, was tue ich da!‹ sagte sie zu sich, als sie auf einmal einen Schmerz an beiden Seiten des Kopfes empfand.
    Nachdem sie ihre Gedanken gesammelt hatte, merkte sie, daß sie ihre Haare an den Schläfen mit beiden Händen gepackt
    hielt und zusammenzog. Sie sprang auf und ging im Zimmer hin und her.
    »Der Kaffee ist fertig, und Mamsell und Sergei warten«,

Weitere Kostenlose Bücher