Anna Karenina
zartgoldiger Farbe eine Frisur von so gewaltiger Höhe aufgebaut, daß ihr Kopf ebenso
groß war wie die schön gewölbte, vorn sehr offene Büste. Vorn lag das Kleid so eng an, daß sich bei jeder Bewegung
die Formen der Knie und Oberschenkel unter dem Kleide abzeichneten; und was die Rückseite anlangte, fragte man sich
unwillkürlich, wo denn dort in diesem kunstvoll aufgebauten, hin und her schaukelnden Berge ihr wirklicher,
kleiner, anmutiger Körper endigen mochte, der oben so weit entblößt und am untern Teile der Rückseite so sorgsam
versteckt war.
Betsy beeilte sich, Sappho und Anna einander vorzustellen.
»Können Sie sich das vorstellen, wir hätten beinahe zwei Soldaten überfahren!« begann Sappho sogleich lächelnd
und mit vergnügtem Augenzwinkern zu erzählen; dabei zog sie auch ihre Schleppe nach hinten zurecht, die sie zuerst
zu sehr nach einer Seite geworfen hatte. »Ich fuhr mit Waska ... Ach so, Sie sind nicht miteinander bekannt.« Sie
stellte den jungen Mann mit seinem Familiennamen vor und lachte errötend laut über ihren Verstoß, daß sie ihn einer
Unbekannten gegenüber Waska genannt hatte. Waska verbeugte sich noch einmal vor Anna, ohne jedoch etwas zu ihr zu
sagen. Er wandte sich an Sappho: »Sie haben die Wette verloren. Wir sind früher angekommen. Also bezahlen Sie nur!«
sprach er lächelnd.
Sappho lachte noch lustiger.
»Aber doch nicht jetzt«, erwiderte sie.
»Nun, dann bekomme ich meinen Gewinn später.«
»Schön, schön! Ach ja!« wandte sie sich plötzlich an die Wirtin. »Ich bin gut! ... Das hatte ich ja ganz
vergessen ... Ich habe Ihnen einen Gast mitgebracht. Da ist er ja auch!«
Der unerwartete jugendliche Gast, den Sappho mitgebracht und vergessen hatte, war jedoch ein so hoher Gast, daß
trotz seines jugendlichen Alters sich die beiden Damen zu seiner Begrüßung von ihren Plätzen erhoben.
Dies war ein neuer Verehrer Sapphos. Ebenso wie Waska, folgte er ihr jetzt auf Schritt und Tritt nach.
Bald kamen auch Fürst Kaluschski und Lisa Merkalowa mit Stremow. Lisa Merkalowa war eine hagere Brünette mit
trägem, orientalischem Gesichtsausdruck und reizenden Augen, unergründlichen Augen, wie man allgemein sagte. Der
Charakter ihrer dunklen Kleidung (Anna bemerkte dies sofort und wußte es zu würdigen) stimmte in denkbar
vollkommenster Weise zu der Eigenart ihrer Schönheit. Wie bei Sappho alles fest und straff war, so bei Lisa weich
und lose.
Aber nach Annas Geschmack war Lisa weit anziehender. Betsy hatte zu Anna von ihr gesagt, sie habe den Ton eines
naiven Kindes angenommen; aber als Anna sie jetzt kennenlernte, fühlte sie, daß das nicht richtig war. Sie war in
Wirklichkeit ein naives Wesen, verderbt, aber liebenswürdig, so daß man ihr nicht zürnen konnte. Allerdings, ihr
Ton war derselbe wie der Ton Sapphos, und ebenso wie dieser folgten ihr wie angeseilt zwei Anbeter und verschlangen
sie mit den Augen (bei ihr war der eine jung, der andere alt); aber in ihr lag etwas, was sie über ihre Umgebung
hinaushob: das war der Glanz des echten Diamanten unter Nachbildungen von Glas. Dieser Glanz leuchtete aus ihren
reizenden, in der Tat unergründlichen Augen hervor. Der müde und zugleich leidenschaftliche Blick dieser von
dunklen Ringen umgebenen Augen überraschte durch seine vollkommene Aufrichtigkeit. Jeder, der in diese Augen
hineinblickte, war überzeugt, daß er diese Frau vollständig kennengelernt habe, und mußte sie dann notwendig
liebgewinnen. Bei Annas Anblick leuchtete ihr ganzes Gesicht auf einmal von einem freudigen Lächeln auf.
»Ach, wie freue ich mich, Sie zu sehen!« sagte sie und trat auf sie zu. »Ich wollte gestern beim Rennen gerade
zu Ihnen kommen, da waren Sie weggefahren. Gerade gestern hatte ich den lebhaften Wunsch, mit Ihnen zu sprechen.
Nicht wahr, es war entsetzlich?« sagte sie, und in dem Blicke, mit dem sie sie ansah, schien ihre ganze Seele offen
dazuliegen.
»Ja, ich hätte nie geglaubt, daß das so aufregend ist«, erwiderte Anna errötend.
Unterdessen hatte sich die Gesellschaft erhoben, um in den Garten zu gehen.
»Ich gehe nicht mit«, sagte Lisa lächelnd und setzte sich neben Anna. »Sie wollen auch nicht hingehen? Wie kann
einem das Krocketspielen nur Vergnügen machen!«
»Oh, ich spiele ganz gern«, erwiderte Anna.
»Wissen Sie, wie fangen Sie es nur an, daß Sie sich nicht langweilen? Man braucht Sie nur anzusehen, dann wird
man fröhlich. So wie Sie leben, das ist das wahre
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