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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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sich
    auszukleiden, auf das Sofa, mit dem Gesicht nach unten, faltete die Hände zusammen und legte den Kopf darauf. Der
    Kopf war ihm schwer. Die seltsamsten Vorstellungen, Erinnerungen und Gedanken lösten mit wunderbarer Schnelligkeit
    und Klarheit einander ab: da war bald die Arznei, die er für die Kranke in der Erregung so eingoß, daß der Löffel
    überfloß, bald die weißen Arme der Hebamme, bald Alexei Alexandrowitschs sonderbare Körperhaltung auf dem Fußboden
    vor dem Bette.
    ›Schlafen! Vergessen!‹ sagte er zu sich mit der ruhigen Zuversicht eines gesunden Menschen, der bestimmt
    erwartet, daß, wenn er müde ist und schlafen will, er auch sofort einschlafen wird. Und wirklich begann es ihm in
    demselben Augenblicke im Kopfe wirr zu werden, und er fing an, in den Abgrund der Selbstvergessenheit zu versinken.
    Die Wogen der Bewußtlosigkeit schlugen bereits über seinem Haupte zusammen, als es ihm plötzlich war, wie wenn er
    einen sehr starken elektrischen Schlag erhielte. Er fuhr so zusammen, daß er mit dem ganzen Körper auf den
    Sprungfedern des Sofas aufschnellte und, auf die Hände gestützt, erschrocken auf die Knie sprang. Seine Augen waren
    weit geöffnet, als ob er an Schlaf nie gedacht hätte. Die Schwere im Kopfe und die Mattigkeit in den Gliedern, die
    er noch einen Augenblick vorher gefühlt hatte, waren auf einmal verschwunden.
    ›Nun können Sie mich in den Schmutz treten‹, hörte er Alexei Alexandrowitsch sagen und sah ihn vor sich und sah
    auch Annas Gesicht mit den fieberheißen Wangen und den glänzenden Augen, wie sie zärtlich und liebevoll nicht ihn,
    sondern Alexei Alexandrowitsch anblickte; er sah seine eigene, wie es ihm vorkam, alberne, lächerliche Gestalt, wie
    ihm Alexei Alexandrowitsch die Hände vom Gesicht nahm. Er streckte wieder die Beine gerade, warf sich in der
    früheren Haltung auf das Sofa und schloß die Augen. ›Schlafen, schlafen!‹ wiederholte er noch einmal bei sich. Aber
    mit geschlossenen Augen sah er noch deutlicher Annas Gesicht, wie es an jenem ihm unvergeßlichen Abend des
    Renntages ausgesehen hatte.
    »Das ist alles vorbei und wird nie wiederkehren, und sie möchte es aus ihrer Erinnerung auslöschen. Ich aber
    kann ohne ihre Liebe nicht leben. Wie, ja wie können wir uns versöhnen, wie können wir uns versöhnen?« sagte er
    laut und begann unbewußt immer dieselben Worte zu wiederholen. Durch die stete Wiederholung dieser Worte wurde das
    Auftauchen neuer Bilder und Erinnerungen gehemmt, die, wie er fühlte, in seinem Kopfe wimmelten. Aber lange dauerte
    diese Hemmung seiner arbeitenden Einbildungskraft nicht. Wieder traten ihm mit seltsamer Schnelligkeit einer nach
    dem andern die schönsten Augenblicke in seinen Beziehungen zu Anna vor die Seele und zugleich damit auch die soeben
    erlittene Demütigung. ›Nimm ihm die Hände weg!‹ sagte Annas Stimme. Und da nahm ihm der Mann die Hände weg, und er
    selbst fühlte, was er für ein beschämtes, einfältiges Gesicht machte.
    Er lag noch immer da und versuchte einzuschlafen, wiewohl er fühlte, daß dazu nicht die geringste Hoffnung
    vorhanden war, und immerzu wiederholte er flüsternd einzelne Worte aus irgendwelchem Gedankengange, um dadurch das
    Auftauchen neuer Bilder zu verhindern. Er horchte – und hörte sich selbst in dem sonderbaren Flüstertone eines
    Irrsinnigen immer die Worte wiederholen: ›Ich habe es nicht zu schätzen, nicht zu benutzen verstanden; ich habe es
    nicht zu schätzen, nicht zu benutzen verstanden.‹
    ›Was ist das? Werde ich wahnsinnig?‹ fragte er sich. ›Vielleicht, aus solchem Grunde wird man ja wahnsinnig, aus
    solchem Grunde erschießt man sich‹, antwortete er selbst auf seine Frage und erblickte, als er die Augen öffnete,
    mit Erstaunen neben seinem Kopfe ein Kissen, das ihm Warja, die Frau seines Bruders, früher einmal gestickt hatte.
    Er berührte ein paarmal leise eine Quaste des Kissens und versuchte sich an Warja zu erinnern, an das letztemal, wo
    er sie gesehen hatte. Aber es war ihm eine Pein, an etwas Fremdartiges zu denken. ›Nein, ich muß schlafen!‹ Er
    rückte sich das Kissen näher und drückte seinen Kopf dagegen; aber es bedurfte für ihn besonderer Anstrengung, um
    die Augen geschlossen zu halten. Er sprang auf und setzte sich hin. ›Diese Sache ist für mich zu Ende‹, sagte er zu
    sich. ›Nun muß ich überlegen, was ich weiter tun soll. Was ist mir denn noch übriggeblieben?‹ Er durchmusterte
    rasch in Gedanken das,

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