Anna Karenina
was von seinem Leben nicht in Beziehung zu Anna stand.
›Der Ehrgeiz? Serpuchowskoi? Die Gesellschaft? Der Hof?‹ Bei nichts vermochte er seine Gedanken festzuhalten.
All das hatte früher eine gewisse Bedeutung für ihn gehabt; aber jetzt war das alles null und nichts. Er stand vom
Sofa auf, zog den Rock aus, lockerte sich den Leibriemen, entblößte seine haarige Brust, um freier atmen zu können,
und ging im Zimmer auf und ab. ›So wird man wahnsinnig‹, sagte er noch einmal, ›und so erschießt man sich ... damit
man sich nicht zu schämen braucht‹, fügte er langsam hinzu.
Er ging zur Tür und machte sie zu; dann trat er mit starrem Blick und fest zusammengepreßten Zähnen an den
Tisch, nahm seinen Revolver heraus, betrachtete ihn, drehte ihn auf die geladene Kammer und versank in Gedanken.
Etwa zwei Minuten lang stand er mit gesenktem Kopfe und dem Ausdruck angestrengten Denkens, den Revolver in der
Hand, da und sann und sann. ›Selbstverständlich‹, sagte er zu sich selbst, wie wenn ein längerer, klarer, logischer
Gedankengang ihn zu einer zweifellos richtigen Schlußfolgerung geführt hätte. In Wahrheit aber war dieses so
überzeugt klingende ›Selbstverständlich‹ lediglich die Folge der Wiederholung genau desselben Kreises von
Erinnerungen und Vorstellungen, den er in dieser Stunde schon ein dutzendmal durchlaufen hatte. Es waren immer
dieselben Erinnerungen an ein für alle Zeit verlorenes Glück, dieselbe Vorstellung von der Wertlosigkeit alles
dessen, was ihm das Leben noch bringen konnte, dasselbe Bewußtsein seiner Demütigung. Und auch die Reihenfolge
dieser Vorstellungen und Gefühle war immer dieselbe.
›Selbstverständlich‹, sagte er noch einmal, als sein Denken sich wieder zum drittenmal in diesem verhexten
Kreise von Erinnerungen und Gedanken herumbewegte; er setzte den Revolver an die linke Brustseite, und indem er mit
der ganzen Hand einen starken Ruck machte, als ob er sie plötzlich zur Faust zusammenballen wollte, drückte er auf
den Abzug. Er hörte keinen Knall von dem Schusse; aber ein heftiger Schlag gegen die Brust warf ihn zu Boden. Er
wollte sich am Rande des Tisches festhalten, ließ dabei den Revolver fallen, wankte, setzte sich auf den Fußboden
und blickte verwundert um sich. Er erkannte sein Zimmer nicht wieder, als er von unten her auf die geschweiften
Beine des Tisches und den Papierkorb und das Tigerfell blickte. Die schnellen Schritte des Dieners, der mit
knarrenden Stiefeln durch den Salon kam, brachten ihn wieder zur Besinnung. Mit Anstrengung sammelte er seine
Gedanken und begriff nun, daß er am Boden lag, und als er das Blut auf dem Tigerfell und an seiner Hand sah,
begriff er auch, daß er auf sich geschossen hatte.
›Dumm! Schlecht getroffen!‹ sagte er vor sich hin und tastete mit der Hand nach dem Revolver. Der Revolver lag
nahe bei ihm; aber er suchte ihn weiter weg. Bei dem fortgesetzten Suchen reckte er sich nach der anderen Seite
hin, und nicht imstande, das Gleichgewicht zu bewahren, sank er blutüberströmt nieder.
Der vornehme Diener mit dem Backenbarte, der schon öfters seinen Bekannten gegenüber über seine schwachen Nerven
geklagt hatte, erschrak, als er seinen Herrn auf dem Fußboden liegen sah, dermaßen, daß er ihn weiterbluten ließ
und davonlief, um Hilfe herbeizuholen. Nach einer Stunde kam Wronskis Schwägerin Warja angefahren, legte mit Hilfe
dreier Ärzte, zu denen sie nach allen Seiten Boten geschickt hatte und die nun gleichzeitig eintrafen, den
Verwundeten auf sein Bett und blieb bei ihm, um ihn zu pflegen.
19
Der Fehler, den Alexei Alexandrowitsch dadurch begangen hatte, daß er damals, als er sich auf das Wiedersehen
mit seiner Frau vorbereitete, nicht auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, daß ihre Reue aufrichtig sein
könne und er ihr verzeihen und sie nicht sterben werde, dieser Fehler wurde ihm als ein solcher zwei Monate nach
seiner Rückkehr aus Moskau in seinem ganzen Umfange kenntlich. Aber dieser von ihm begangene Fehler war nicht nur
daraus entsprungen, daß er diese Möglichkeit nicht mit erwogen hatte, sondern auch daher, daß er bis zu diesem
Wiedersehen mit seiner todkranken Frau sein eigenes Herz nicht gekannt hatte. Am Krankenbette seiner Frau hatte er
sich zum ersten Male in seinem Leben willig jenem Gefühle mitleidiger Rührung überlassen, das die Leiden anderer
Menschen bei ihm hervorriefen und dessen er sich bisher als einer nachteiligen
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