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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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die
    Kirchtüren hereinzuschlüpfen.

6
    Nachdem die Verlobung beendet war, breitete ein Kirchendiener vor dem Chorpulte in der Mitte der Kirche ein
    Stück rosa Seidengewebe aus, der Chor stimmte einen kunstvoll vertonten Psalm an, bei dem Baß und Tenor einander
    antworteten, und der Geistliche wandte sich zu den Verlobten um und deutete auf das rosafarbene Zeug. So oft und so
    viel sie nun auch schon beide von dieser Vorbedeutung gehört hatten, daß, wer zuerst auf den Teppich trete, der
    Herr im Hause sein werde, so war doch weder Ljewin noch Kitty, während sie diese wenigen Schritte vortraten,
    imstande, daran zu denken. Ebensowenig hörten sie die lauten Bemerkungen und den Streit darüber, ob, was einige
    beobachtet haben wollten, er zuerst daraufgetreten sei oder, wie andere meinten, beide zugleich.
    Nach den üblichen Fragen, ob sie den Wunsch hätten, miteinander die Ehe zu schließen, und ob sie sich nicht
    schon anderen versprochen hätten, und nach ihren Antworten, die ihnen selbst sonderbar klangen, begann der zweite
    Teil der Feier, die Trauung. Kitty hörte auf die Worte des Gebetes hin und hätte gern ihren Sinn verstanden; aber
    sie war nicht imstande dazu. Ein Gefühl des Triumphes und der hellen Freude erfüllte, je weiter die heilige
    Handlung fortschritt, immer mehr und mehr ihre Seele und machte ihr eine eindringende Aufmerksamkeit unmöglich.
    Es wurde gebetet: »Verleihe ihnen Keuschheit und Frucht des Leibes zu ihrem Besten und laß sie sich erfreuen am
    Anblick ihrer Söhne und Töchter.« Es kam darin auch vor, daß Gott das Weib aus der Rippe Adams geschaffen habe,
    und: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein
    ein Fleisch«, und: »Dies ist ein hohes Geheimnis«. Da war auch die Bitte, Gott möge ihnen Fruchtbarkeit und Segen
    verleihen, wie Isaak und Rebekka, Joseph, Moses und Zipporah, und ihnen vergönnen, noch Söhne ihrer Söhne zu sehen.
    ›Alles das ist wunderschön‹, dachte Kitty, als sie diese Worte hörte, ›und so, und nicht anders, muß auch alles
    sein‹, und ein Lächeln der Freude, das sich unwillkürlich allen mitteilte, die sie ansahen, leuchtete auf ihrem
    strahlenden Gesicht.
    »Setzen Sie sie ihr ganz auf!« rieten flüsternd einige der Umstehenden, als zunächst der Geistliche ihnen die
    Kronen aufgesetzt hatte und nun der junge Schtscherbazki mit zitternder, in einem dreiknöpfigen Handschuh
    steckender Hand Kittys Krone hoch über ihrem Kopfe hielt.
    »Setzen Sie sie mir auf«, flüsterte sie lächelnd.
    Ljewin blickte zu ihr hin und war von dem freudigen Glanze überrascht, der auf ihrem ganzen Gesicht lag; und
    dieses Gefühl teilte sich ihm unwillkürlich mit. Ebenso wie ihr wurde auch ihm hell und froh zumute.
    Es machte ihnen Freude, zuzuhören, wie aus den Apostelbriefen vorgelesen wurde, und bei dem letzten Verse, auf
    den das fremde Publikum mit größter Ungeduld gewartet hatte, rollte die Stimme des Protodiakons wie Donner. Es
    machte ihnen Freude, aus der flachen Schale den warmen, mit Wasser vermischten Rotwein zu trinken, und noch höher
    stieg ihre Freude, als der Geistliche sein Meßgewand zurückschlug, beider Hände in die seinigen nahm und sie,
    während die Baßstimme dröhnend den Hymnus auf die Mutter Gottes: »Jauchze, Jesaias!« anstimmten, um das Chorpult
    herumführte. Der junge Schtscherbazki und Tschirikow, die die Kronen über den Häuptern des Brautpaares hielten und
    gleichfalls lächelten und sich über irgend etwas freuten, blieben manchmal zurück und prallten ein paarmal, wenn
    der Geistliche stehenblieb, gegen die Brautleute an. Der Freudenfunke, der bei Kitty aufgeflammt war, schien bei
    allen in der Kirche Anwesenden weitergezündet zu haben. Ljewin hatte die Vorstellung, als ob auch der Geistliche
    und der Protodiakon ebensolche Lust zu lächeln hätten wie er selbst.
    Der Geistliche nahm die Kronen von ihren Häuptern herab, las das letzte Gebet und beglückwünschte das junge
    Paar. Ljewin blickte auf Kitty und hatte sie noch nie so schön gesehen wie jetzt. Sie war entzückend in dem neuen
    Glanze von Glückseligkeit, der auf ihrem Antlitz lag. Ljewin hätte ihr gern etwas gesagt, wußte aber nicht, ob auch
    wirklich alles zu Ende sei. Der Geistliche half ihm aus dieser Schwierigkeit heraus. Indem ein gutmütiges Lächeln
    seinen Mund umspielte, sagte er leise: »Küssen Sie Ihre Gattin, und Sie Ihren Gatten«, und nahm ihnen die Kerzen
    aus den

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