Anna Karenina
sie im nächsten Augenblick genötigt sein werde, einen Menschen, den sie gern hatte, zu
verletzen, und aufs grausamste zu verletzen. Und wofür? Dafür, daß dieser gute Mensch sie liebte, in sie verliebt
war. Aber es war nicht zu vermeiden, es ging nicht anders, es mußte sein.
›Mein Gott, muß ich es ihm wirklich selbst sagen?‹ dachte sie. ›Soll ich ihm sagen, daß ich ihn nicht gern habe?
Das wäre eine Unwahrheit. Was soll ich ihm denn nur sagen? Soll ich ihm sagen, daß ich einen anderen liebe? Nein,
das kann ich unmöglich. Ich will weggehen, ja, ich will weggehen!‹
Sie war schon dicht an der Tür, als sie seine Schritte hörte. ›Nein, das wäre nicht ehrenhaft. Warum soll ich
mich fürchten? Ich habe nichts Böses getan. Was sein muß, muß sein! Ich werde die Wahrheit sagen. Und ihm gegenüber
kann mir das nicht peinlich sein. – Da ist er!‹ sagte sie zu sich selbst, als sie seine kräftige und dabei doch
schüchterne Gestalt mit den glänzenden, auf sie gerichteten Augen erblickte. Sie sah ihm offen ins Gesicht, als
wollte sie ihn um Schonung anflehen, und reichte ihm die Hand.
»Ich komme zu unrichtiger Zeit, es scheint noch zu früh zu sein«, sagte er, sich in dem leeren Salon um
blickend. Als er sah, daß seine Erwartung eingetroffen war und ihn nichts hinderte, sich auszusprechen, wurde sein
Gesicht tiefernst.
»Oh, nicht doch!« erwiderte Kitty und setzte sich an den Tisch.
»Gerade das hatte ich gewünscht, Sie allein zu treffen«, begann er, ohne sich zu setzen und ohne sie anzusehen,
um nicht den Mut zu verlieren.
»Mama kommt sofort. Sie war gestern sehr müde. Gestern ...«
Sie sprach, ohne selbst zu wissen, was ihre Lippen redeten, und ohne ihren flehenden, traulich-freundlichen
Blick von ihm abzuwenden.
Er sah sie an; sie errötete und verstummte.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich nicht wüßte, ob ich für längere Zeit hierher nach Moskau gekommen sei und daß
das von Ihnen abhängen werde ...«
Sie senkte den Kopf immer tiefer und tiefer hinab und wußte jetzt selbst nicht, was sie auf die herannahende
Frage antworten werde.
»... daß das von Ihnen abhängen werde«, sagte er noch einmal. »Ich wollte sagen ... ich wollte sagen ... Ich bin
nach Moskau gekommen, um ... um ... Werden Sie mein Weib!« kam es auf einmal heraus, ohne daß er selbst gewußt
hätte, was er sprach; aber da er fühlte, daß das Schrecklichste nun gesagt war, hielt er inne und blickte sie
an.
Sie atmete schwer, ohne ihn anzusehen. Ein Wonnegefühl durchströmte sie; ihre ganze Seele war übervoll von
Glücksempfindung. Sie hatte nie erwartet, daß ein Liebesgeständnis von einer Seite auf sie einen so gewaltigen
Eindruck machen werde. Aber dies dauerte nur einen Augenblick. Dann tauchte bei ihr der Gedanke an Wronski auf. Sie
hob ihre hellen, ehrlichen Augen zu Ljewin in die Höhe, und als sie die Verzweiflung in seinem Gesichte las,
antwortete sie hastig:
»Es kann nicht sein. – Verzeihen Sie mir!«
Wie nahe hatte sie ihm noch einen Augenblick vorher gestanden, welche wichtige Stellung hatte sie in seinem
Leben eingenommen! Und wie fremd, wie fern war sie ihm jetzt auf einmal!
»Es konnte nicht anders kommen«, sagte er, ohne sie anzusehen.
Er verbeugte sich und wollte fortgehen.
14
Aber in diesem Augenblick trat die Fürstin ein. Ein Erschrecken malte sich auf ihrem Gesichte, als sie die
beiden so allein und ihre erregten Mienen sah. Ljewin verbeugte sich vor ihr, ohne ein Wort zu sagen; Kitty schwieg
und hob die Augen nicht empor. ›Gott sei Dank, sie hat ihm einen Korb gegeben‹, dachte die Mutter, und auf ihrem
Gesichte strahlte das gewöhnliche Lächeln auf, mit dem sie an jedem Donnerstage ihre Gäste begrüßte. Sie setzte
sich und begann Ljewin über sein Leben auf dem Lande auszufragen. Er hatte gleichfalls wieder Platz genommen und
wartete nur auf die Ankunft anderer Gäste, um dann unbemerkt wegzugehen.
Fünf Minuten darauf trat eine Freundin Kittys ein, die sich im vorigen Winter verheiratet hatte, eine Gräfin
Northstone.
Dies war eine trockene, gelbliche, kränkliche, nervöse Dame mit schwarzen, glänzenden Augen. Sie mochte Kitty
sehr gern, und diese freundschaftliche Gesinnung gegen sie äußerte sich, wie das bei der Freundschaft verheirateter
Frauen mit jungen Mädchen stets der Fall ist, in dem Wunsche, Kitty in einer ihrem eigenen Ideale von Glück
entsprechenden Weise unter die Haube zu bringen. Sie strebte danach, daß Kitty
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