Anna Karenina
am Bett des Kranken stand sein Getränk und
eine Kerze, dort lagen auch seine Pulver. Der Kranke selbst, gewaschen und gekämmt, lag auf den rein überzogenen,
in die Höhe gestellten Kopfkissen, in einem reinen Hemde mit einem weißen Kragen um den unnatürlich dünnen Hals,
und blickte mit einem neuen Ausdruck von Lebenshoffnung zu Kitty hin.
Der Arzt, den Konstantin holen gegangen war, im Klub gefunden und zu kommen veranlaßt hatte, war nicht derselbe,
der Nikolai bisher behandelt hatte und mit dem dieser so unzufrieden gewesen war. Der neue Arzt holte sein Röhrchen
hervor, behorchte den Kranken, schüttelte mit dem Kopfe und verschrieb eine Arznei; dann setzte er in sehr
ausführlicher Weise zuerst auseinander, wie diese einzunehmen sei, und dann, welche Diät beobachtet werden müsse.
Er empfahl rohe oder nur ganz wenig gekochte Eier und Selterswasser mit frischer Milch von bestimmter Temperatur.
Als der Arzt wieder weggegangen war, sagte der Kranke etwas zu seinem Bruder; aber Konstantin verstand nur die
letzten Worte: »deine Katja«; jedoch aus dem Blick, mit dem Nikolai nach ihr hinsah, entnahm Konstantin, daß er sie
lobte. Dann rief er auch Katja, wie er sie nannte, zu sich heran.
»Mir ist jetzt schon viel besser«, sagte er. »Ja, wenn Sie mich gepflegt hätten, wäre ich schon längst wieder
gesund geworden. Wie gut, daß Sie sich meiner annehmen!« Er ergriff ihre Hand und wollte sie an seine Lippen
ziehen. Aber wie wenn er fürchtete, dies könne ihr unangenehm sein, brach er diese Bewegung ab, ließ ihre Hand
wieder sinken und streichelte sie nur. Kitty nahm seine Hand in ihre beiden Hände und drückte sie.
»Legt mich jetzt auf die linke Seite herum, und dann geht schlafen«, sagte er.
Niemand hatte deutlich gehört, was er gesagt hatte, nur Kitty hatte erfaßt, was er meinte. Sie hatte es
verstanden, weil ihre Gedanken fortwährend darauf gerichtet waren, was er wohl gerade nötig haben möge.
»Er möchte auf die andere Seite gelegt werden«, sagte sie zu ihrem Manne. »Er schläft immer auf der andern
Seite. Lege du ihn herum; es ist unangenehm, die Dienerschaft dazu zu rufen. Ich bin dazu nicht stark genug. Können
Sie es?« wandte sie sich an Marja Nikolajewna.
»Ich fürchte mich«, antwortete diese.
Eine wie entsetzliche Empfindung es auch für Konstantin war, diesen furchtbaren Körper mit den Armen zu
umfassen, unter der Bettdecke die entsetzlich entstellten Körperteile zu berühren, von denen er nichts wissen
mochte, so machte er doch, sich der Einwirkung seiner Frau fügend, die entschlossene Miene, die sie an ihm kannte,
schob die Arme darunter und faßte zu; aber trotz seiner Körperkraft war er von der Schwere dieser ausgemergelten
Glieder überrascht. Während er den Kranken herumdrehte und dabei seinen Hals von dessen gewaltig großer, magerer
Hand umfaßt fühlte, wendete Kitty schnell und unhörbar das Kopfkissen um, schüttelte es auf, legte den Kopf des
Kranken zurecht und strich ihm die spärlichen Haare in Ordnung, die ihm wieder an der Schläfe festklebten.
Der Kranke hielt die Hand des Bruders in seiner Hand fest. Konstantin merkte, daß Nikolai etwas mit dieser Hand
tun wollte und sie irgendwohin zog. Beklommenen Herzens gab er nach. Ja, er zog sie an seinen Mund und küßte sie.
Konstantin brach in ein solches Schluchzen aus, daß sein ganzer Leib zuckte, und stürzte, nicht imstande, ein Wort
zu sagen, aus dem Zimmer.
19
›Er hat es den Weisen verborgen und den Kindern und Unmündigen geoffenbart‹, dachte Konstantin Ljewin mit Bezug
auf seine Frau, als er an diesem Abend mit ihr sprach.
Er dachte an diesen Spruch im Evangelium nicht etwa, weil er sich für einen Weisen gehalten hätte. Für einen
Weisen hielt er sich zwar nicht; aber er war doch der bestimmten Überzeugung, daß er klüger sei als seine Frau und
als Agafja Michailowna, und er war sich auch bewußt, daß er, sooft er über den Tod nachdachte, dies mit aller Kraft
seines Geistes tat. Er wußte auch, daß viele Männer von scharfem Verstande, deren Gedanken über den Tod er gelesen
hatte, viel über diesen nachgedacht und dennoch über ihn nicht den hundertsten Teil von dem gewußt hatten, was
seine Frau und Agafja Michailowna über ihn wußten. So verschieden auch diese beiden Frauen voneinander waren,
Agafja Michailowna und Katja, wie sein Bruder Nikolai sie zu nennen pflegte und wie auch Konstantin sie jetzt
besonders gern nannte: in diesem Punkte waren
Weitere Kostenlose Bücher