Anna Karenina
sie einander völlig ähnlich. Beide wußten sie unzweifelhaft, was das
Leben war und was der Tod war, und obgleich sie die Fragen, die sich ihm, Konstantin Ljewin, aufdrängten, nicht
hätte beantworten können, ja überhaupt nicht verstanden hätten, so hatten sie doch beide keinen Zweifel über das
Wesen dieser Erscheinung, des Todes, und hatten über ihn völlig die gleiche Anschauung, nicht nur untereinander,
sondern sie teilten diese Auffassung auch mit Millionen von Menschen. Ein Beweis dafür, daß sie mit Bestimmtheit
wußten, was der Tod sei, lag darin, daß sie, ohne auch nur eine Sekunde lang im unsichern zu sein, wußten, wie man
Sterbende zu behandeln habe, und sich vor ihnen nicht fürchteten. Konstantin Ljewin aber und andere Leute konnten
zwar vieles vom Tode sagen, kannten ihn aber offenbar nicht, da sie ihn fürchteten und schlechterdings nicht
wußten, wie sie sich Sterbenden gegenüber zu verhalten hätten. Wäre Konstantin jetzt allein bei seinem Bruder
Nikolai gewesen, so würde er ihn nur mit Entsetzen angesehen und mit noch größerem Entsetzen auf den Tod gewartet
haben; weiter aber hätte er nichts zu tun gewußt.
Ja noch mehr: er wußte nicht einmal, was er sagen, wie er den Sterbenden ansehen, wie er im Zimmer gehen sollte.
Von Gegenständen, die dem andern fern lagen, zu reden, das erschien ihm verletzend, das ging unmöglich; und vom
Tode und solchen düsteren Dingen zu sprechen, das ging ebensowenig. Zu schweigen war gleichfalls unmöglich. ›Sehe
ich ihn an, so wird er, fürchte ich, denken, daß ich sein Aussehen studieren will; sehe ich ihn nicht an, so wird
er denken, daß ich andere Gedanken im Kopfe habe; gehe ich auf den Fußspitzen, so wird ihm das nicht recht sein;
und mit dem ganzen Fuße aufzutreten scheue ich mich auch.‹ Kitty dagegen dachte offenbar gar nicht an sich selbst
und hatte auch keine Zeit dazu; sie dachte an den Kranken, weil sie eben etwas wußte, was Konstantin nicht wußte.
Und alles ging ihr gut vonstatten: sie erzählte ihm von sich selbst und von ihrer Hochzeit und lächelte ihm zu und
bedauerte ihn und streichelte ihn, sprach von Fällen der Genesung bei der gleichen Krankheit – das ging ihr alles
gut vonstatten; folglich wußte sie, was der Tod war. Ein Beweis dafür, daß ihre und Agafja Michailownas Tätigkeit
nicht rein triebhaft, vernunftlos war, mußte darin gesehen werden, daß außer der körperlichen Pflege, der
Erleichterung der Leiden sowohl Agafja Michailowna wie auch Kitty für einen Sterbenden noch etwas anderes für nötig
hielten, etwas Wichtigeres als die körperliche Pflege, etwas, was mit dem ganzen Gebiete des Leiblichen nichts
gemein hatte. So hatte Agafja, als sie von jenem verstorbenen alten Knecht sprach, gesagt: »Nun, Gott sei Dank, er
hatte das Abendmahl genommen und die Letzte Ölung erhalten; gebe Gott einem jeden einen solchen Tod!« Ganz ebenso
hatte Kitty, neben all ihren Sorgen um die Wäsche, um die durchgelegenen Stellen und um das Getränk, gleich an
diesem ersten Tage Zeit gefunden, den Kranken von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß er das Abendmahl nehme und
die Letzte Ölung empfange.
Als sie von dem Kranken für die Nacht in ihre beiden Zimmer zurückgekehrt waren, saß Konstantin mit gesenktem
Kopfe da, ohne zu wissen, was er nun tun sollte. Er dachte nicht an das Abendessen, er dachte nicht daran, sich zum
Schlafengehen zurechtzumachen, er überlegte nicht, was sie nun weiter tun müßten; ja er war nicht einmal imstande,
mit seiner Frau zu reden; er schämte sich. Kitty hingegen war noch geschäftiger und sogar noch lebhafter als sonst
gewöhnlich. Sie ließ Abendessen bringen, packte selbst die Sachen aus, half selbst die Betten zurechtmachen, und
vergaß nicht, sie mit Insektenpulver zu bestreuen. Es war an ihr jene Erregung und jene Schnelligkeit des Denkens
wahrnehmbar, wie sie sich bei Männern vor einer Schlacht, vor einem Kampfe, in gefährlichen, entscheidenden
Augenblicken des Lebens einstellen, in jenen Augenblicken, wo der Mann in unzweifelhafter Weise zeigt, daß er etwas
wert ist und daß seine ganze Vergangenheit nicht eine nutzlos verbrachte Zeit, sondern eine Vorbereitung auf diese
Augenblicke gewesen ist.
Alles ging ihr rasch von der Hand, und es war noch nicht zwölf Uhr, als alle Sachen bereits ausgepackt und
sauber und ordentlich zurechtgelegt waren, und zwar in so eigenartiger Weise, daß diese Hotelzimmer mit ihrer
eigenen Häuslichkeit, mit
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