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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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sie einander völlig ähnlich. Beide wußten sie unzweifelhaft, was das
    Leben war und was der Tod war, und obgleich sie die Fragen, die sich ihm, Konstantin Ljewin, aufdrängten, nicht
    hätte beantworten können, ja überhaupt nicht verstanden hätten, so hatten sie doch beide keinen Zweifel über das
    Wesen dieser Erscheinung, des Todes, und hatten über ihn völlig die gleiche Anschauung, nicht nur untereinander,
    sondern sie teilten diese Auffassung auch mit Millionen von Menschen. Ein Beweis dafür, daß sie mit Bestimmtheit
    wußten, was der Tod sei, lag darin, daß sie, ohne auch nur eine Sekunde lang im unsichern zu sein, wußten, wie man
    Sterbende zu behandeln habe, und sich vor ihnen nicht fürchteten. Konstantin Ljewin aber und andere Leute konnten
    zwar vieles vom Tode sagen, kannten ihn aber offenbar nicht, da sie ihn fürchteten und schlechterdings nicht
    wußten, wie sie sich Sterbenden gegenüber zu verhalten hätten. Wäre Konstantin jetzt allein bei seinem Bruder
    Nikolai gewesen, so würde er ihn nur mit Entsetzen angesehen und mit noch größerem Entsetzen auf den Tod gewartet
    haben; weiter aber hätte er nichts zu tun gewußt.
    Ja noch mehr: er wußte nicht einmal, was er sagen, wie er den Sterbenden ansehen, wie er im Zimmer gehen sollte.
    Von Gegenständen, die dem andern fern lagen, zu reden, das erschien ihm verletzend, das ging unmöglich; und vom
    Tode und solchen düsteren Dingen zu sprechen, das ging ebensowenig. Zu schweigen war gleichfalls unmöglich. ›Sehe
    ich ihn an, so wird er, fürchte ich, denken, daß ich sein Aussehen studieren will; sehe ich ihn nicht an, so wird
    er denken, daß ich andere Gedanken im Kopfe habe; gehe ich auf den Fußspitzen, so wird ihm das nicht recht sein;
    und mit dem ganzen Fuße aufzutreten scheue ich mich auch.‹ Kitty dagegen dachte offenbar gar nicht an sich selbst
    und hatte auch keine Zeit dazu; sie dachte an den Kranken, weil sie eben etwas wußte, was Konstantin nicht wußte.
    Und alles ging ihr gut vonstatten: sie erzählte ihm von sich selbst und von ihrer Hochzeit und lächelte ihm zu und
    bedauerte ihn und streichelte ihn, sprach von Fällen der Genesung bei der gleichen Krankheit – das ging ihr alles
    gut vonstatten; folglich wußte sie, was der Tod war. Ein Beweis dafür, daß ihre und Agafja Michailownas Tätigkeit
    nicht rein triebhaft, vernunftlos war, mußte darin gesehen werden, daß außer der körperlichen Pflege, der
    Erleichterung der Leiden sowohl Agafja Michailowna wie auch Kitty für einen Sterbenden noch etwas anderes für nötig
    hielten, etwas Wichtigeres als die körperliche Pflege, etwas, was mit dem ganzen Gebiete des Leiblichen nichts
    gemein hatte. So hatte Agafja, als sie von jenem verstorbenen alten Knecht sprach, gesagt: »Nun, Gott sei Dank, er
    hatte das Abendmahl genommen und die Letzte Ölung erhalten; gebe Gott einem jeden einen solchen Tod!« Ganz ebenso
    hatte Kitty, neben all ihren Sorgen um die Wäsche, um die durchgelegenen Stellen und um das Getränk, gleich an
    diesem ersten Tage Zeit gefunden, den Kranken von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß er das Abendmahl nehme und
    die Letzte Ölung empfange.
    Als sie von dem Kranken für die Nacht in ihre beiden Zimmer zurückgekehrt waren, saß Konstantin mit gesenktem
    Kopfe da, ohne zu wissen, was er nun tun sollte. Er dachte nicht an das Abendessen, er dachte nicht daran, sich zum
    Schlafengehen zurechtzumachen, er überlegte nicht, was sie nun weiter tun müßten; ja er war nicht einmal imstande,
    mit seiner Frau zu reden; er schämte sich. Kitty hingegen war noch geschäftiger und sogar noch lebhafter als sonst
    gewöhnlich. Sie ließ Abendessen bringen, packte selbst die Sachen aus, half selbst die Betten zurechtmachen, und
    vergaß nicht, sie mit Insektenpulver zu bestreuen. Es war an ihr jene Erregung und jene Schnelligkeit des Denkens
    wahrnehmbar, wie sie sich bei Männern vor einer Schlacht, vor einem Kampfe, in gefährlichen, entscheidenden
    Augenblicken des Lebens einstellen, in jenen Augenblicken, wo der Mann in unzweifelhafter Weise zeigt, daß er etwas
    wert ist und daß seine ganze Vergangenheit nicht eine nutzlos verbrachte Zeit, sondern eine Vorbereitung auf diese
    Augenblicke gewesen ist.
    Alles ging ihr rasch von der Hand, und es war noch nicht zwölf Uhr, als alle Sachen bereits ausgepackt und
    sauber und ordentlich zurechtgelegt waren, und zwar in so eigenartiger Weise, daß diese Hotelzimmer mit ihrer
    eigenen Häuslichkeit, mit

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