Anna Karenina
dann geh hinaus«,
fügte er mit einem fragenden Blick nach seinem Bruder hinzu.
Konstantin antwortete nicht. Als er auf den Flur hinausgetreten war, blieb er stehen. Er hatte gesagt, er wolle
seine Frau holen; aber jetzt, wo er sich Rechenschaft gab über die Empfindung, die ihn erfüllte, entschied er sich
dafür, ihr im Gegenteil zuzureden, daß sie von einem Besuch bei dem Kranken Abstand nehmen möchte. ›Wozu soll sie
dieselbe Qual ausstehen wie ich?‹ dachte er.
»Nun, wie steht es? Wie ist es mit ihm?« fragte Kitty mit ängstlichem Gesichte.
»Ach, es ist furchtbar, ganz furchtbar! Warum bist du nur mit hergekommen?« antwortete Konstantin.
Kitty schwieg einige Sekunden und blickte ihren Mann schüchtern und mitleidig an; dann trat sie zu ihm und faßte
mit beiden Händen seinen Ellbogen.
»Konstantin, führe mich zu ihm; zu zweien werden wir es leichter tragen. Führe du mich nur zu ihm hin; bitte,
führe mich zu ihm hin, und dann kannst du ja selbst hinausgehen«, bat sie. »Du mußt doch einsehen, daß ich weit
schwerer leide, wenn ich nur dich sehe und nicht ihn. Dort werde ich vielleicht dir und ihm nützlich sein können.
Bitte, bitte, erlaube es!« flehte sie ihren Mann an, als ob das Glück ihres Lebens davon abhinge.
Konstantin mußte ihr nachgeben; sobald er seine Fassung wiedergewonnen hatte, ging er mit Kitty zu seinem
Bruder; Marja Nikolajewna hatte er nun vollständig vergessen.
Leicht auftretend, ihren Mann beständig anblickend und ihm ein tapferes, teilnahmsvolles Gesicht zeigend, ging
Kitty in das Zimmer des Kranken und schloß, indem sie sich ohne Hast umwandte, geräuschlos die Tür. Mit unhörbaren
Schritten trat sie schnell an das Lager des Kranken heran, und nachdem sie so herumgegangen war, daß er den Kopf
nicht zu wenden brauchte, nahm sie sofort seine große, skelettartige Hand in ihre frische, jugendliche, drückte sie
und begann mit jener nur den Frauen eigenen teilnahmsvollen, stillen Lebhaftigkeit, die nichts Verletzendes hat,
mit ihm zu sprechen.
»Wir sind uns schon in Soden begegnet, aber ohne miteinander bekannt zu werden«, sagte sie. »Das haben Sie wohl
nicht gedacht, daß ich Ihre Schwägerin werden würde?«
»Sie hätten mich wohl nicht wiedererkannt?« fragte er mit einem hellen Lächeln, das bei ihrem Kommen sein
Gesicht überzogen hatte.
»O doch, doch, ich hätte Sie erkannt. Wie lieb von Ihnen, daß Sie uns benachrichtigt haben! Es ging kein Tag
vorüber, ohne daß Konstantin an Sie gedacht und sich um Sie beunruhigt hätte.«
Aber die freudige Erregung hielt bei dem Kranken nicht lange an.
Sie hatte noch nicht ausgeredet, da trat auf sein Gesicht wieder der strenge, vorwurfsvolle Ausdruck des Neides,
den der Sterbende gegen den Lebenden empfindet.
»Ich fürchte, Sie sind hier nicht gerade sehr gut aufgehoben«, sagte sie, indem sie sich von seinem unverwandten
starren Blicke abwandte und sich im Zimmer umsah. »Wir sollten den Wirt um ein anderes Zimmer ersuchen«, sagte sie
zu ihrem Mann, »auch schon, um einander näher zu sein.«
18
Konstantin konnte seinen Bruder nicht ruhig ansehen; er brachte es nicht fertig, sich in dessen Gegenwart
natürlich und ruhig zu benehmen. Sobald er in das Zimmer des Kranken trat, überzog, ohne daß er es selbst recht
merkte, eine Art von Nebel seine Augen und sein Wahrnehmungsvermögen, so daß er die Einzelheiten in dem Zustande
seines Bruders nicht bemerkte und nicht erkannte. Er empfand den furchtbaren Geruch und sah den Schmutz und die
Unordnung und Nikolais qualvolle Lage und hörte sein Stöhnen und sagte sich, daß es hier keine Hilfe mehr gebe. Es
kam ihm gar nicht in den Sinn, alle Einzelheiten in dem Zustand des Kranken festzustellen, darüber nachzudenken,
wie dieser Körper dort unter der Decke lag, in welcher gekrümmten Haltung diese ausgemergelten Unterschenkel und
Hüften und dieser magere Rücken gelagert seien und ob es nicht irgendwie möglich sei, sie besser zu lagern, etwas
zu tun, damit der Kranke, wenn es ihm dadurch auch nicht eigentlich besser ginge, es doch nicht ganz so schlimm
habe. Es lief ihm kalt über den Rücken, sobald er an all diese Einzelheiten zu denken anfing. Er war, ohne mehr
irgendwie zu zweifeln, davon überzeugt, daß sich weder für die Verlängerung von Nikolais Leben noch für die
Linderung seiner Leiden etwas tun lasse. Aber der Kranke spürte es heraus, daß sein Bruder jede Hilfe für unmöglich
erachtete, und das machte ihn
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