Anna Karenina
gereizt. Und Konstantin fühlte, wie der Druck, der auf seinem Herzen lag, dadurch
noch schwerer wurde. Es war für ihn eine Qual, in dem Zimmer des Kranken zu sein, und nicht da zu sein eine noch
größere. Unter allerlei Vorwänden ging er beständig hinaus und kam dann wieder herein, da er nicht imstande war,
allein zu bleiben.
Kitty dagegen dachte, fühlte und handelte ganz anders. Beim Anblick des Kranken hatte sie ein herzliches Mitleid
empfunden. Und dieses Mitleid hatte in ihrer Frauenseele durchaus nicht ein Gefühl des Entsetzens und des Ekels
hervorgerufen wie bei ihrem Manne, sondern vielmehr ein Bedürfnis zu handeln, sich über alle Einzelheiten seines
Zustandes zu unterrichten und ihm zu helfen. Und da sie nun an ihrer Pflicht, zu helfen, nicht den geringsten
Zweifel hatte, so zweifelte sie auch nicht an der Möglichkeit der Hilfe und machte sich ungesäumt ans Werk.
Dieselben Einzelheiten, die ihren Mann in Schrecken versetzten, wenn er auch nur an sie dachte, wurden sofort ein
Gegenstand ihrer eifrigen Aufmerksamkeit. Sie ließ einen Arzt holen, schickte nach der Apotheke, ordnete an, daß
das Mädchen, das sie vom Gute mitgebracht hatte, mit Marja Nikolajewna zusammen das Zimmer ausfegen, Staub wischen,
die Wäsche waschen sollte; einzelnes wusch und spülte sie auch selbst und legte ihm eine Bettflasche unter die
Bettdecke. Auf ihre Anordnung wurde ein anderes Gerät in das Krankenzimmer hereingebracht und wieder entfernt. Sie
selbst ging mehrmals nach ihrem Zimmer und holte, ohne sich um die begegnenden Herren zu kümmern, Laken, Bezüge,
Handtücher und Hemden.
Der Kellner, der im Speisesaal einigen Ingenieuren das Mittagessen auftrug, kam mehrere Male auf Kittys Klingeln
mit ärgerlichem Gesicht herbeigelaufen, konnte aber doch nicht umhin, ihre Weisungen auszuführen, da sie sie mit
einer solchen freundlichen Eindringlichkeit erteilte, daß es einfach unmöglich war, anders von ihr loszukommen.
Konstantin war mit alledem nicht einverstanden; er glaubte nicht, daß der Kranke davon irgendwelchen Nutzen habe.
Am meisten aber fürchtete er, der Kranke könnte ärgerlich werden. Indes war der Arme zwar anscheinend dagegen
gleichgültig, ärgerlich jedoch wurde er nicht, sondern er schämte sich nur; und im Grunde hatte er doch ein
gewisses Gefühl für das, was Kitty an ihm tat. Als Konstantin vom Arzt zurückkehrte, zu dem Kitty ihn geschickt
hatte, und die Tür öffnete, fand er den Kranken gerade in dem Augenblick, wo ihm auf Kittys Anordnung die Wäsche
gewechselt wurde. Der lange, weiße, skelettartige Rücken mit den großen, herausragenden Schulterknochen und den
hervorstehenden Rippen und Wirbeln war entblößt, und Marja Nikolajewna und der Kellner hatten den Ärmel des Hemdes
in falsche Lage gebracht und konnten den langen herabhängenden Arm nicht hineinbekommen. Kitty, die hinter
Konstantin eilig die Tür wieder geschlossen hatte, sah nicht hin; aber der Kranke stöhnte auf, und da ging sie
rasch zu ihm.
»Ihr müßt schneller machen«, sagte sie.
»Kommen Sie nicht her«, sagte der Kranke ärgerlich, »ich werde schon selbst ...«
»Was sagen Sie?« fragte ihn Marja Nikolajewna.
Aber Kitty hatte ihn verstanden und begriffen, daß er sich schäme und es ihm unangenehm sei, in ihrer Gegenwart
nackt zu sein.
»Ich sehe gar nicht hin, ich sehe gar nicht hin!« sagte sie, während sie den Arm, wie es sich gehörte, in den
Ärmel hineinbrachte. »Und Sie, Marja Nikolajewna, Sie können nach der anderen Seite herumgehen und es da in Ordnung
bringen«, fügte sie hinzu.
»Bitte«, wandte sie sich an ihren Mann, »geh doch einmal nach unserm Zimmer; da steckt in meinem kleinen
Reisesack ein Fläschchen, du weißt schon, in der Seitentasche; das bring doch her, bitte; unterdessen soll hier
vollends aufgeräumt werden.«
Als Konstantin mit dem Fläschchen zurückkam, fand er den Kranken schon wieder gelagert und alles um ihn herum
völlig verändert. An die Stelle des beklemmenden üblen Geruches war der Geruch eines mit Parfüm versetzten Essigs
getreten, den Kitty, die Lippen vorstreckend und die roten Backen aufblasend, durch ein Röhrchen im Zimmer
umhersprühte. Staub war nirgends mehr sichtbar; unter dem Bett lag ein Teppich. Auf einem Tische standen in guter
Ordnung mehrere Fläschchen, eine Wasserkaraffe und Gläser; auch lag dort, zu einem Päckchen zusammengelegt, die
nötige reine Wäsche und ferner Kittys Handarbeit. Auf einem andern Tisch
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