Anna Karenina
Weiter kommt nichts in
Betracht. Warum wohnen wir hier getrennt und sehen einander nicht? Warum soll ich nicht in die Oper fahren? Ich
liebe dich, und alles übrige ist mir gleichgültig«, sprach sie russisch weiter und blickte ihn mit einem
eigentümlichen, ihm rätselhaften Glanze in den Augen an, »wenn du dich nicht verändert hast. Warum siehst du mich
denn nicht an?«
Er blickte sie an. Er sah die ganze Schönheit ihres Gesichts und ihrer Gesellschaftstoilette, die ihr stets so
vorzüglich stand. Aber jetzt war es gerade ihre Schönheit und Eleganz, was ihn in gereizte Stimmung versetzte.
»Mein Gefühl kann sich nicht ändern, das wissen Sie; aber ich bitte, ich beschwöre Sie, nicht in die Oper zu
fahren«, sagte er, beim Französischen verbleibend; seine Stimme klang zärtlich und flehend, aber sein Blick war
kalt.
Seine Worte hörte sie nicht; aber sie sah die Kälte seines Blickes und antwortete gereizt:
»Und ich bitte Sie, mir zu erklären, warum ich nicht hinfahren soll.«
»Sie setzen sich der Gefahr aus, daß ...« Er zauderte, weiterzusprechen.
»Ich verstehe nicht, was Sie eigentlich meinen. Jaschwin n'est pas compromettant 1 , und die Prinzessin Warwara ist in keiner Hinsicht schlechter
als andere Frauen. Und da ist sie auch schon.«
Fußnoten
1 (frz.) Mit Jaschwin kompromittiert man
sich nicht.
33
Zum ersten Male empfand Wronski gegen Anna ein Gefühl des Ärgers, ja fast des Ingrimms wegen dieser
absichtlichen Verkennung ihrer Lage. Dieses Gefühl wurde noch dadurch gesteigert, daß er ihr den Grund, weshalb er
sich ärgerte, nicht wohl mitteilen konnte. Hätte er ihr offen sagen wollen, was er dachte, so hätte er sagen
müssen, in dieser Kleidung mit der allgemein bekannten Prinzessin im Theater zu erscheinen, das wäre nicht nur ein
Zugeständnis, daß sie eine Gefallene sei, sondern auch eine schroffe Herausforderung an die vornehme Gesellschaft,
das heißt ein Bruch mit ihr für immer.
Das konnte er ihr nicht sagen. ›Aber wie ist es nur möglich, daß sie das nicht einsieht? Und was geht in ihr
vor?‹ fragte er sich selbst. Er fühlte, wie bei ihm gleichzeitig die Achtung vor ihr sich verminderte und die
Bewunderung ihrer Schönheit noch zunahm.
Mit finsterem Gesicht kehrte er wieder in sein Zimmer zurück und setzte sich zu Jaschwin, der seine langen Beine
auf einen Stuhl gestreckt hatte und Kognak mit Selterswasser trank. Wronski ließ sich dasselbe Getränk bringen.
»Du sprachst von Lankowskis Hengst Mogutschi. Das ist ein gutes Pferd, und ich kann dir nur raten, es zu
kaufen«, sagte Jaschwin, der die finstere Miene seines Kameraden sehr wohl bemerkte. »Das Hinterteil hängt ein
wenig; aber Beine und Kopf kann man sich gar nicht besser wünschen.«
»Ich glaube, ich werde ihn nehmen«, antwortete Wronski.
Das Gespräch über Pferde zog ihn ja an; aber er mußte doch fortwährend an Anna denken, horchte unwillkürlich
nach dem Geräusch der Schritte auf dem Vorsaal und blickte nach der Uhr auf dem Kamin.
»Anna Arkadjewna läßt sagen, daß sie ins Theater gefahren ist.«
Jaschwin kippte noch ein Glas Kognak in das schäumende Wasser, trank es aus, stand auf und knöpfte seinen Rock
zu.
»Nun, wollen wir auch fahren?« fragte er. Er lächelte leise unter seinem Schnurrbart und deutete durch dieses
Lächeln an, daß er die Ursache der Mißstimmung Wronskis kenne, ihr aber keine Bedeutung beimesse.
»Ich komme nicht mit«, erwiderte Wronski finster.
»Ich muß aber hin, ich habe es versprochen. Nun, dann also auf Wiedersehen. Sonst komm doch ins Parkett und nimm
Krasinskis Platz«, fügte Jaschwin beim Hinausgehen hinzu.
»Nein, ich habe zu tun.«
›Eine Ehefrau macht einem Sorgen, und eine, mit der man nicht verheiratet ist, noch mehr‹, dachte Jaschwin, als
er aus dem Hotel hinaustrat.
Als Wronski allein geblieben war, stand er vom Stuhl auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
›Was ist denn heute in der Oper? Die vierte Abonnementsvorstellung ... Jegor und Gemahlin werden da sein und
wahrscheinlich auch die Mutter. Das heißt, ganz Petersburg ist da. Jetzt hat sie sich schon in die Loge begeben,
hat den Pelz abgelegt und ist nach vorn ins Helle getreten. Tuschkewitsch, Jaschwin, die Prinzessin Warwara sind
bei ihr.‹ Alles vergegenwärtigte er sich auf das lebhafteste. ›Nun, und ich? Fürchte ich mich etwa, oder habe ich
diesen Tuschkewitsch beauftragt, ihr Beschützer zu sein? Man mag die Geschichte ansehen, wie man
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