Anna Karenina
Jaschwin der erste, der seinen Blick auf sie
richtete. Wronski besah die Photographien ihres Sohnes, die sie aus Versehen auf dem Tisch hatte liegenlassen, und
beeilte sich nicht, zu ihr aufzublicken.
»Wir kennen uns«, sagte sie, indem sie ihre kleine Hand in die gewaltige Tatze Jaschwins legte, der offenbar
sehr verlegen war, was sich bei seiner hünenhaften Gestalt und seinen derben Gesichtszügen wunderlich genug
ausnahm. »Wir haben uns im vorigen Jahre bei den Rennen kennengelernt. Bitte, geben Sie her«, sagte sie, indem sie
Wronski mit einer raschen Bewegung die Photographien ihres Sohnes, die er besah, wegnahm und ihn mit ihren
glänzenden Augen bedeutsam anblickte. »Waren die Rennen in diesem Jahre gut? Ich habe statt der Petersburger Rennen
die Rennen auf dem Korso in Rom gesehen. Übrigens weiß ich, daß Sie das Leben im Auslande nicht lieben«, fuhr sie
mit freundlichem Lächeln fort. »Ich kenne Sie und Ihren ganzen Geschmack, obgleich ich erst wenig mit Ihnen
zusammengekommen bin.«
»Das tut mir sehr leid; denn ich besitze auf den allermeisten Gebieten einen recht schlechten Geschmack«,
erwiderte Jaschwin und biß sich auf die linke Schnurrbartspitze.
Als die Unterhaltung noch ein Weilchen gedauert hatte und Jaschwin bemerkte, daß Wronski nach der Uhr sah,
fragte er Anna, ob sie noch lange in Petersburg bleiben werde, und griff dabei, seine mächtige Gestalt
geradebiegend, nach seinem Käppi.
»Ich glaube, nicht mehr lange«, antwortete sie verlegen und blickte nach Wronski hin.
»Dann sehen wir uns also wohl nicht mehr?« fragte Jaschwin, sich an Wronski wendend, und stand auf. »Wo speisest
du heute zu Mittag?«
»Speisen Sie doch bei uns«, sagte Anna in entschlossenem Tone, als ob sie auf sich selbst wegen ihrer
Verlegenheit ärgerlich sei; aber sie errötete, wie stets, wenn sie vor einem Fernerstehenden ihre Lage durchblicken
ließ. »Das Essen ist hier zwar nicht besonders; aber wenigstens bleiben Sie auf diese Art mit Alexei zusammen.
Alexei hat von allen seinen Regimentskameraden zu keinem eine solche Zuneigung wie zu Ihnen.«
»Mit großem Vergnügen«, erwiderte Jaschwin mit einem freundlichen Lächeln, aus dem Wronski erkannte, daß ihm
Anna sehr gefiel.
Jaschwin empfahl sich und ging zur Tür; Wronski blieb noch zurück.
»Fährst du auch weg?« fragte sie ihn.
»Ja, ich muß mich beeilen; es ist mir schon etwas spät geworden«, antwortete er. »Geh nur! Ich komme dir sofort
nach!« rief er Jaschwin zu.
Sie ergriff ihn bei der Hand, blickte ihn mit unverwandten Augen an und suchte in ihren Gedanken etwas, was sie
ihm sagen könnte, um ihn zurückzuhalten.
»Warte einen Augenblick; ich möchte dir noch etwas sagen.« Sie nahm seine breite, kurze Hand und drückte sie
gegen ihren Hals. »Ist es dir auch nicht unangenehm, daß ich ihn zum Mittagessen eingeladen habe?«
»Das hast du sehr gut gemacht«, antwortete er mit einem ruhigen Lächeln, das seine vollzähligen Zähne sichtbar
werden ließ, und küßte ihr die Hand.
»Alexei, du hast dich doch mir gegenüber nicht verändert?« fragte sie und drückte seine Hand mit ihren beiden
Händen. »Alexei, ich habe hier zu viel Qual ausstehen müssen. Wann reisen wir?«
»Bald, bald. Du glaubst nicht, wie schwer es auch mir wird, hier zu leben«, versetzte er und zog seine Hand aus
ihren Händen.
»Nun, dann geh nur, geh nur!« sagte sie gekränkt und trat schnell von ihm zurück.
32
Als Wronski ins Hotel zurückkehrte, war Anna noch nicht dort. Es wurde ihm gesagt, bald nachdem er das Hotel
verlassen habe, sei eine Dame gekommen, und Anna sei mit ihr zusammen weggefahren. Daß sie weggefahren war, ohne
ihm gesagt zu haben, wohin, und daß sie bis jetzt noch nicht wieder zurückgekehrt war, und daß sie am Morgen
irgendwohin gefahren war, ohne ihm ein Wort davon zu sagen, dazu noch ihre seltsam aufgeregte Miene am Vormittag
und der, wie er sich erinnerte, geradezu feindselige Ton, mit dem sie ihm in Jaschwins Gegenwart die Photographien
ihres Sohnes aus den Händen gerissen hatte, alles dies machte ihn nachdenklich. Er fand, daß es notwendig sei, sich
darüber mit ihr auszusprechen, und wartete auf sie im Wohnzimmer. Aber Anna kehrte nicht allein zurück, sondern
brachte ihre Tante, ein altes Fräulein, mit, die Prinzessin Oblonskaja. Das war eben die Dame, die am Vormittag zu
Anna gekommen war und mit der sie dann ausgefahren war, um Einkäufe zu machen. Anna schien Wronskis
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