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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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daß ich heute glaube, die
    Entscheidung erwarten zu müssen. Sie verstehen, welche Entscheidung. Wie schön das wäre!«
    »Aber was hat sie für eine meisterhafte Geschicklichkeit im Ehestiften!« sagte Dolly. »Wie behutsam und schlau
    sie die beiden zusammenbringt ...«
    »Nun, sagen Sie doch, maman, wie denken Sie darüber?«
    »Ja, was soll ich darüber denken? Er« (mit ›er‹ meinte sie Sergei Iwanowitsch) »konnte früher zu jeder Zeit die
    beste Partie in ganz Rußland machen; jetzt ist er ja gerade nicht mehr jung; aber trotzdem würde ihn auch jetzt
    noch manches Mädchen nehmen, das weiß ich sicher ... Sie ist ein sehr gutes Mädchen; aber er könnte ...«
    »Nein, bitte, hören Sie nur einmal zu, Mama, warum sowohl für ihn wie für sie dies das Beste ist, was man
    überhaupt ausdenken könnte. Erstens: sie ist allerliebst!« sagte Kitty, indem sie einen Finger einbog.
    »Sie gefällt ihm sehr, das ist sicher«, bemerkte Dolly zustimmend.
    »Zweitens: er nimmt in der Welt eine solche Stellung ein, daß er bei der Wahl seiner Frau weder auf Vermögen
    noch auf gesellschaftlichen Rang irgendwelchen Wert zu legen braucht. Was er nötig hat, ist nur eines: eine gute,
    liebe Frau, eine Frau von ruhigem Charakter.«
    »Ja, mit ihr hat ein Mann ein ruhiges Leben«, meinte auch Dolly.
    »Drittens: sie muß ihn lieben. Und auch das ist der Fall ... ich wollte sagen: es wäre prächtig, wenn auch das
    der Fall wäre! ... Ich erwarte, daß, wenn sie wieder aus dem Walde herauskommen, alles entschieden ist. Ich werde
    es ihnen gleich an den Augen ansehen. Ich würde mich so sehr darüber freuen! Wie denkst du darüber, Dolly?«
    »Rege dich nur nicht so auf«, sagte die Mutter. »Aufregung ist dir ganz und gar nicht zuträglich.«
    »Ich rege mich ja auch gar nicht auf, Mama. Ich denke mir nur, er macht ihr heute einen Antrag.«
    »Ach ja, es ist doch etwas recht Sonderbares, wenn einem ein Mann einen Antrag macht ... Zuerst ist da so eine
    Art Scheidewand gewesen, und nun wird die auf einmal niedergerissen«, sagte Dolly träumerisch lächelnd und dachte
    an ihr einstiges Erlebnis mit Stepan Arkadjewitsch.
    »Mama, wie hat Ihnen denn Papa einen Antrag gemacht?« fragte Kitty auf einmal.
    »Es war nichts Ungewöhnliches dabei; es machte sich ganz einfach«, antwortete die Fürstin; aber ein heller
    Schein zog bei dieser Erinnerung über ihr Gesicht.
    »Aber sagen Sie doch, wie es dabei zuging. Sie haben ihn doch gewiß schon geliebt, ehe Sie es sagen
    durften?«
    Kitty fand einen ganz besonderen Reiz darin, daß sie jetzt mit ihrer Mutter wie mit einer Gleichgestellten über
    diese wichtigsten Fragen im Frauenleben reden konnte.
    »Natürlich liebte er mich; er kam häufig zu uns aufs Gut.«
    »Aber wie kam es denn zum Ausdruck, Mama?«
    »Du denkst wohl, daß ihr etwas Neues erfunden habt? Das ist immer dieselbe Sache: durch die Augen kam es zum
    Ausdruck und durch die lächelnden Mienen ...«
    »Wie hübsch Sie das gesagt haben, Mama! Ganz richtig: durch die Augen und durch die lächelnden Mienen«, stimmte
    Dolly bei.
    »Aber mit welchen Worten hat er es Ihnen denn gesagt?«
    »Mit welchen Worten hat es dir denn dein Konstantin gesagt?«
    »Er hat es mit Kreide aufgeschrieben. Das war etwas ganz Wunderbares ... Wie weit das schon hinter mir liegt!«
    fügte sie hinzu.
    Und die drei Frauen hingen ihren Gedanken über ein und denselben Gegenstand nach. Kitty war die erste, die das
    Stillschweigen unterbrach. Es war ihr die Erinnerung an den ganzen letzten Winter vor ihrer Verheiratung und an
    ihre Schwärmerei für Wronski gekommen.
    »Eines ist unangenehm ... das ist Warjenkas frühere Liebschaft«, sagte sie; ein natürlicher Gedankengang hatte
    sie hierauf geführt. »Ich möchte gern zu Sergei Iwanowitsch ein Wort davon sagen, ihn vorbereiten. Sie, ich meine
    alle Männer«, fügte sie hinzu, »sind doch furchtbar eifersüchtig auf unsere Vergangenheit.«
    »Nicht alle«, versetzte Dolly. »Du urteilst so nach deinem Manne. Der quält sich noch bis auf den heutigen Tag
    mit der Erinnerung an Wronski herum. Ja? Habe ich recht?«
    »Freilich«, antwortete Kitty mit wehmütigem Lächeln.
    »Ich verstehe nur nicht«, sagte die Fürstin, um die Art, wie sie als Mutter ihre Tochter beaufsichtigt hatte, zu
    verteidigen, »was ihn eigentlich an deiner Vergangenheit beunruhigen könnte. Daß Wronski dir den Hof gemacht hat?
    Dergleichen kommt bei jedem jungen Mädchen vor.«
    »Wir wollen nicht davon sprechen«,

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