Anna Karenina
ging er, obgleich er dadurch ein Zischen des
Publikums hervorrief, das bei den Tönen der Kavatine lautlos dasaß, aus dem Parkett hinaus und fuhr nach dem
Hotel.
Anna war bereits dort. Als Wronski bei ihr eintrat, befand sie sich noch in derselben Kleidung, in der sie im
Theater gewesen war. Sie saß an der Wand auf dem ersten Sessel bei der Tür und sah vor sich hin. Sie blickte den
Eintretenden einen Augenblick an, nahm aber sofort wieder ihre frühere Haltung ein.
»Anna«, sagte er.
»Du, du bist an allem schuld!« rief sie (vor Tränen der Verzweiflung und des Ingrimms konnte sie kaum sprechen)
und stand auf.
»Ich hatte dich gebeten, dich beschworen, nicht hinzufahren; ich wußte, daß dir Unangenehmes widerfahren würde
...«
»Unangenehmes!« rief sie. »Entsetzlich war es! Solange ich lebe, werde ich das nicht vergessen. Sie hat gesagt,
es sei eine Schande, neben mir zu sitzen.«
»Das ist eine Äußerung eines dummen Weibes«, erwiderte er. »Aber welchen Zweck hat es, sich einer solchen Gefahr
auszusetzen und die Leute herauszufordern ...«
»Ich bin empört, wie ruhig du dabei bist. Du hättest mich nicht soweit bringen dürfen. Wenn du mich liebtest
...«
»Anna! Was hat meine Liebe damit zu schaffen ...«
»Ja, wenn du mich liebtest, wie ich dich liebe, wenn du solche Qualen ausständest wie ich ...«, sagte sie, ihn
mit einem Ausdruck von Herzensangst anblickend.
Sie tat ihm leid, aber doch ärgerte er sich über sie. Er beteuerte ihr seine Liebe, weil er sah, daß dies das
einzige Mittel war, sie jetzt zu beruhigen, und machte ihr mit Worten keine Vorwürfe; aber im Herzen war er doch
unzufrieden mit ihr.
Und diese Liebesbeteuerungen, die ihm jetzt so leer erschienen, daß er sich eigentlich schämte, sie
auszusprechen, hörte sie mit einer Art von Gier an und beruhigte sich allmählich. Am Tage darauf reisten sie,
völlig miteinander ausgesöhnt, nach dem Gute ab.
Fußnoten
1 (frz.) Madame Karenina den Hof zu
machen.
2 (frz.) Sie erregt Aufsehen. Man vergißt
ihretwegen die Patti.
3 (frz.) So etwas findet man nicht
mehr.
1
Darja Alexandrowna verlebte den Sommer mit ihren Kindern in Pokrowskoje bei ihrer Schwester Kitty Ljewina. Auf
ihrem eigenen Gut war das Wohnhaus vollständig verfallen, und Ljewin und seine Frau hatten ihr zugeredet, den
Sommer bei ihnen zu verbringen. Stepan Arkadjewitsch war mit dieser Einrichtung höchst einverstanden. Er sagte, es
täte ihm außerordentlich leid, daß ihn der Dienst hindere, mit seiner Familie den Sommer auf dem Lande zu verleben,
was ihm doch der höchste Genuß sein würde, blieb in Moskau und kam nur ab und zu für einen oder zwei Tage auf das
Gut hinaus. Außer Oblonskis mit allen Kindern und der Erzieherin war bei Ljewins in diesem Sommer auch noch die
alte Fürstin zu Besuch, die es für ihre Pflicht hielt, auf ihre unerfahrene Tochter, die sich in einem
»interessanten« Zustande befand, ein Auge zu haben. Außerdem hatte Warjenka, mit der Kitty im Auslande Freundschaft
geschlossen hatte, ihr Versprechen erfüllt, zu ihr zu kommen, sobald Kitty verheiratet sein würde, und war nun bei
ihrer Freundin zu Besuch. Alles dies waren Verwandte und Freunde von Ljewins Frau. Und obgleich er sie alle recht
gern hatte, so tat es ihm doch auch einigermaßen leid, daß seine, die Ljewinsche Welt und seine ganze Lebensordnung
durch diesen Zudrang des Schtscherbazkischen Elementes, wie er es bei sich im stillen nannte, gleichsam erstickt
wurden. Von seinen eigenen Verwandten wohnte in diesem Sommer bei ihnen nur Sergei Iwanowitsch; aber auch dieser
gehörte eigentlich nicht zum Ljewinschen, sondern zum Kosnüschewschen Schlage, so daß die Ljewinsche
Geistesrichtung ganz ins Hintertreffen geriet.
In Ljewins Haus, das so lange still und leer gewesen war, waren jetzt so viele Gäste, daß fast alle Zimmer
besetzt waren und die alte Fürstin fast jeden Tag, wenn man zu Tisch ging, alle durchzählen und einen Enkel oder
eine Enkelin als dreizehnten an einen besonderen Tisch setzen mußte. Auch Kitty, die ihre Hauswirtschaft mit großem
Eifer führte, hatte nicht wenig Sorge, die Hühner, Puten und Enten zu beschaffen, deren bei dem sommerlichen
Appetit der Gäste, sowohl der Erwachsenen wie der Kinder, eine erkleckliche Menge nötig war.
Die ganze Familie saß beim Mittagessen. Dollys Kinder mit der Erzieherin und Warjenka entwarfen Pläne, wohin sie
zum Pilzesammeln gehen wollten. Sergei Iwanowitsch, der sich bei
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