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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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begeben?«
    »Ich habe Nachricht erhalten, daß ich noch mehr Gäste zu erwarten habe«, erwiderte Ljewin und riß immer
    schneller und schneller mit seinen starken Fingern die Splitter von dem zerfaserten Stock ab. »Oder auch, ich
    erwarte gar keine Gäste und habe keine Nachricht erhalten; aber ich ersuche Sie abzureisen. Sie mögen sich meine
    Unhöflichkeit erklären, wie Sie wollen.«
    Wasenka richtete sich gerade.
    »Ich ersuche vielmehr Sie, mir zu erklären ...«, sagte er mit Würde, nachdem er endlich verstanden
    hatte.
    »Ich kann Ihnen keine Erklärung geben«, versetzte Ljewin leise und langsam, bemüht, das Zittern seiner
    Kinnbacken zu verbergen. »Und es ist auch besser für Sie, nicht danach zu fragen.«
    Und da nun Ljewin die losgesplitterten Stücke des Stockes bereits sämtlich abgebrochen hatte, so faßte er mit
    den Fingern die beiden dicken Stücke, riß den Stock der Länge nach auseinander und fing das eine Stück, das
    herunterfiel, sorgsam auf.
    Der Anblick dieser angespannten Arme und starken Muskeln, die er am Vormittag beim Turnen befühlt hatte, die
    blitzenden Augen und bebenden Kinnbacken und der Klang dieser mühsam gedämpften Stimme hatten wahrscheinlich für
    Wasenka eine größere Überzeugungskraft als die Worte. Er zuckte die Achseln und verbeugte sich mit einem
    geringschätzigen Lächeln.
    »Kann ich Oblonski sprechen?«
    Durch das Achselzucken und das Lächeln ließ sich Ljewin nicht aufbringen. ›Was bleibt ihm auch weiter zu tun
    übrig?‹ dachte er.
    »Ich werde ihn sofort zu Ihnen schicken.«
    »Was ist das für ein sinnloses Benehmen!« sagte Stepan Arkadjewitsch, als er von seinem Freunde erfahren hatte,
    daß er aus dem Hause gewiesen sei, und Ljewin im Garten fand, wo er in Erwartung der Abreise des Gastes umherging.
    »Mais c'est ridicule! Was für eine Fliege hat dich denn gestochen? Mais c'est du dernier ridicule! 5 Was findest du denn dabei, wenn ein junger Mann ...«
    Aber die Stelle, wo die Fliege Ljewin gestochen hatte, war offenbar noch schmerzhaft; denn er wurde wieder ganz
    blaß, als Stepan Arkadjewitsch die Veranlassung erörtern wollte, und unterbrach ihn hastig:
    »Bitte, rede nicht von der Veranlassung! Ich habe nicht anders gekonnt! Ich schäme mich sehr vor dir und vor
    ihm. Aber ihm, glaube ich, wird es kein großer Schmerz sein wegzureisen; mir aber und meiner Frau ist seine
    Anwesenheit unangenehm.«
    »Aber es ist für ihn eine Beleidigung! Et puis c'est ridicule! 6 «
    »Aber für mich war es eine Beleidigung und eine Qual! Ich hatte mir nichts zuschulden kommen lassen und sehe
    nicht ein, warum ich da leiden soll!«
    »Na, das hätte ich wahrhaftig nicht von dir erwartet! On peut être jaloux, mais à ce point c'est du dernier
    ridicule! 7 «
    Ljewin wandte sich schnell von ihm ab und ging weiter nach dem Ende der Allee zu: dort fuhr er fort, allein auf
    und ab zu gehen. Es dauerte nicht lange, da hörte er das Poltern des Reisewägelchens und sah hinter den Bäumen
    hervor, wie Wasenka, auf dem Heu sitzend (denn Sitze befanden sich in diesem Wagen leider nicht), mit seiner
    schottischen Mütze durch die Allee fuhr und bei jedem Stoße des Wagens in die Höhe flog.
    ›Was gibt es denn da noch?‹ dachte Ljewin, als der Diener aus dem Hause gelaufen kam und durch lauten Zuruf den
    Wagen wieder zum Halten veranlaßte. Der Grund war der Maschinist, den Ljewin vollständig vergessen hatte. Der
    Maschinist grüßte Weslowski, sagte etwas zu ihm und stieg dann zu ihm in den Wagen; darauf fuhren sie beide
    zusammen weiter.
    Stepan Arkadjewitsch und die Fürstin waren über Ljewins Handlungsweise empört. Und auch er selbst hatte das
    Gefühl, daß er sich nicht nur im höchsten Grade lächerlich gemacht, sondern auch sehr unrecht getan und sich
    entehrt habe; aber wenn er sich die Qualen ins Gedächtnis zurückrief, die er und seine Frau ausgestanden hatten,
    und sich dann fragte, wie er im Wiederholungsfalle handeln würde, so gab er sich die Antwort, daß er genau das
    gleiche tun würde.
    Trotzdem waren zu Ende dieses Tages alle, mit Ausnahme der Fürstin, die Ljewin ein solches Benehmen nicht
    verzeihen konnte, in ungewöhnlich lebhafte, vergnügte Stimmung gekommen, wie Kinder nach einer Bestrafung oder
    Erwachsene nach einem lästigen offiziellen Empfang, so daß am Abend über Wasenkas Ausweisung in Abwesenheit der
    Fürstin bereits wie über ein weit zurückliegendes Begebnis gesprochen wurde. Und Dolly, die von ihrem Vater die
    Gabe

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