Anna Karenina
Perlenschnur.
Kitty hatte Anna täglich gesehen und sich geradezu in sie verliebt. Sie hatte sie sich durchaus in Lila
vorgestellt; aber als sie sie jetzt in Schwarz erblickte, da kam sie zu der Erkenntnis, daß sie Annas Reiz vorher
nicht in vollem Umfange erfaßt hatte. Sie sah sie jetzt in einer völlig neuen, überraschenden Erscheinungsform.
Jetzt begriff sie, daß Anna nicht Lila tragen durfte und daß ihr Reiz gerade darin bestand, daß sie, gleichsam wie
ein Bild aus dem Rahmen, aus ihrer Toilette heraustrat und daß man über ihrer Person ihre Toilette nicht beachtete.
Und wirklich sah man dieses schwarze Kleid mit den prachtvollen Spitzen an ihr eigentlich gar nicht; das Kleid war
nur der Rahmen, und sichtbar war nur sie in ihrer Schlichtheit, Natürlichkeit und Schönheit sowie in ihrer
Heiterkeit und Lebhaftigkeit.
Sie stand, wie immer, in sehr gerader Haltung da und redete gerade mit dem Hausherrn, indem sie den Kopf leicht
zu ihm hinwandte, als Kitty an diese Gruppe herantrat.
»Nein, ich will keinen Stein auf sie werfen«, antwortete sie auf etwas, was er gesagt hatte, »verstehen kann ich
es allerdings nicht, wie das möglich war«, fuhr sie achselzuckend fort. Dann wandte sie sich sogleich mit einem
liebenswürdigen, gönnerhaften Lächeln zu Kitty. Mit schnellem Frauenblicke musterte sie deren Toilette und gab dann
durch eine kaum bemerkbare, aber für Kitty verständliche Kopfbewegung ihren Beifall sowohl für die Toilette wie
auch für die Schönheit der Trägerin zu verstehen. »Sie sind ja in den Saal hereingetanzt gekommen«, fügte sie
hinzu.
»Das ist eine meiner treuesten Gehilfinnen«, sagte Korsunski und verbeugte sich vor Anna Arkadjewna, die er noch
nicht begrüßt hatte. »Die Prinzessin trägt außerordentlich viel dazu bei, einen Ball heiter und schön zu gestalten.
Anna Arkadjewna, einen Walzer«, sagte er, sich verneigend.
»Sie kennen einander schon?« fragte der Hausherr.
»Mit wem wären meine Frau und ich nicht bekannt? Wir sind wie weiße Wölfe, uns kennt jeder«, versetzte
Korsunski. »Einen Walzer, Anna Arkadjewna!«
»Ich tanze nicht, wenn ich es vermeiden kann«, antwortete sie.
»Aber heute ist es nicht zu vermeiden«, entgegnete Korsunski.
In diesem Augenblicke trat Wronski heran.
»Nun, wenn es denn heute für mich unvermeidlich ist, zu tanzen, so kommen Sie!« sagte sie, ohne Wronskis
Verbeugung zu beachten, und legte schnell die Hand auf Korsunskis Schulter.
›Was mag sie nur gegen ihn haben?‹ dachte Kitty; sie hatte recht wohl gemerkt, daß Anna den Gruß Wronskis
absichtlich nicht erwidert hatte. Wronski trat nun auf Kitty zu, erinnerte sie an die ihm versprochene erste
Quadrille und äußerte sein Bedauern darüber, daß er diese ganze Zeit her nicht das Vergnügen gehabt habe, sie zu
sehen. Kitty blickte voll Bewunderung zu der tanzenden Anna hin und hörte gleichzeitig auf das, was Wronski sagte.
Sie erwartete, daß er sie zum Walzer auffordern werde; aber er tat es nicht, und sie blickte ihn verwundert an. Er
errötete und bat sie nun eilig um den Tanz; aber kaum hatte er ihre schlanke Hüfte umfaßt und den ersten Schritt
gemacht, als die Musik plötzlich aufhörte. Kitty schaute in sein Gesicht, das dem ihren so nahe war, und noch lange
nachher, noch jahrelang, erfüllte der Gedanke an diesen Blick voll Liebe, den er unerwidert gelassen hatte, ihr
Herz mit einem bitteren, bitteren Gefühl der Scham.
»Pardon, pardon! Walzer, Walzer!« rief von der anderen Seite des Saales her Korsunski, faßte selbst die erste
junge Dame um, die ihm in den Weg kam, und tanzte weiter.
23
Wronski tanzte mit Kitty den Walzer. Nach dem Tanz begab sich Kitty zu ihrer Mutter und hatte kaum ein paar
Worte mit der Gräfin Northstone gesprochen, als auch schon Wronski kam, um sie zur ersten Quadrille zu holen.
Während der Quadrille sprachen die beiden nichts von Bedeutung miteinander; die Unterhaltung berührte sprungweise
die verschiedensten Gegenstände. Bald sprach Wronski von Herrn Korsunski und Frau Korsunskaja, von denen er eine
höchst unterhaltsame Schilderung entwarf, indem er sie als nette Kinderchen von vierzig Jahren kennzeichnete, bald
von dem in Aussicht genommenen Liebhabertheater, und nur ein einziges Mal ging das Gespräch Kitty näher an, und
zwar berührte es bei ihr einen empfindlichen Punkt, als er sich nach Ljewin erkundigte, ob der auch hier sei, und
hinzufügte, er habe ihm sehr gut gefallen. Aber von dieser
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