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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Unzufriedenheit mit sich selbst verging. Das hatte er schon beim ersten Blick auf Ignat
    und die Pferde empfunden; aber als er nun gar den für ihn mitgebrachten Schafpelz anzog, sich wohlvermummt in den
    Schlitten setzte und dahinfuhr und dabei über die von ihm in Aussicht genommenen Anordnungen auf dem Gute
    nachdachte und das eine Seitenpferd beobachtete, das früher sein Reitpferd gewesen war, aus einem Donischen Gestüt,
    ein schon etwas abgerackertes, aber immer noch tüchtiges Tier: da gelangte er zu einer ganz anderen Auffassung
    seines letzten Erlebnisses. Er fühlte sich wieder als das, was er war, und wollte nichts anderes sein. Nur besser
    wollte er jetzt werden, als er früher gewesen war. Erstens nahm er sich vor, von nun an nicht mehr auf ein
    außerordentliches Glück, wie er es sich von der Ehe versprochen hatte, zu hoffen und nicht mehr infolge einer
    solchen Hoffnung die Gegenwart gering zu schätzen. Zweitens wollte er sich nicht wieder von garstiger Sinnlichkeit
    hinreißen lassen, weil die Erinnerung an frühere Fälle solcher Schwäche ihn damals, als er seinen Heiratsantrag zu
    machen beabsichtigte, so furchtbar gemartert hatte. Ferner gedachte er seines Bruders Nikolai und gab sich das
    Wort, ihn nie wieder zu vergessen, sich stets Kenntnis über sein Ergehen zu verschaffen und ihn nie aus den Augen
    zu verlieren, um zur Hilfe bereit zu sein, wenn es ihm schlecht ginge. Daß es bald soweit sein werde, daran konnte
    er nicht zweifeln. Auch was sein Bruder zu ihm über den Kommunismus gesagt hatte, ohne daß er seinerseits dabei
    ernstlich Stellung zu diesem Gegenstande genommen hätte, brachte ihn jetzt zum Nachdenken. Er hielt eine gänzliche
    Umgestaltung der sozialen Verhältnisse für ein Ding der Unmöglichkeit, aber er hatte immer seinen eigenen Überfluß
    gegenüber der Armut der Masse als Ungerechtigkeit empfunden und nahm sich nun, um das Gefühl einer vollen
    Berechtigung zu haben, fest vor, wenn er auch schon vorher viel gearbeitet und ohne Üppigkeit gelebt hatte, jetzt
    noch mehr zu arbeiten und sich noch weniger Wohlleben zu gestatten. Und daß er zur Verwirklichung aller dieser
    Absichten die Kraft in sich finden werde, schien ihm so sicher, daß er den ganzen Weg in den angenehmsten
    Träumereien verbrachte. Mit einem mutigen Gefühle der Hoffnung auf ein neues, besseres Leben fuhr er bald nach acht
    Uhr an seinem Hause vor.
    Aus den Fenstern seiner alten Kinderfrau und jetzigen Wirtschafterin Agafja Michailowna fiel ein Lichtschein auf
    den schneebedeckten Platz vor dem Hause. Sie schlief noch nicht. Der Diener Kusma, den sie geweckt hatte, kam
    verschlafen und barfuß auf die Freitreppe heraus. Die Hühnerhündin Laska kam gleichfalls herausgesprungen, wobei
    sie den Diener beinahe umstieß, und rieb sich winselnd an Ljewins Knien; sie hob sich in die Höhe und hätte ihm
    gern die Vorderfüße auf die Brust gesetzt, wagte dies aber doch nicht.
    »Sie sind ja schnell wieder zurückgekommen, Väterchen«, sagte Agafja Michailowna.
    »Ich bekam Heimweh, Agafja Michailowna. Auf Besuch sein ist schön, aber zu Hause ist es doch am besten«,
    antwortete er ihr und ging in sein Zimmer.
    Die Kerze, die er hineintrug, erhellte die einzelnen Teile des Zimmers einen nach dem anderen. Die ihm so
    wohlbekannten Stücke der Einrichtung traten aus dem Dunkel hervor: die Hirschgeweihe, die Bücherregale, der
    Spiegel, der Ofen mit der Ventilation, die schon längst einer Ausbesserung bedurfte, das altväterische Sofa, der
    große Tisch, auf dem Tische ein aufgeschlagenes Buch, ein zerbrochener Aschenbecher, ein Heft, in dem er
    geschrieben hatte. Beim Anblick aller dieser Gegenstände überkam ihn für einen Augenblick ein Zweifel, ob es
    möglich sein werde, jenes neue Leben ins Werk zu setzen, das er sich unterwegs so schön ausgemalt hatte. Alle diese
    seine bisherigen Lebensbegleiter schienen ihn gleichsam in ihre Arme zu schließen und zu ihm zu sagen: ›Nein, du
    entrinnst uns nicht und wirst nie ein anderer werden; du bleibst immer derselbe, der du gewesen bist: mit deinen
    Zweifeln, mit deiner steten Unzufriedenheit mit dir selbst, mit deinen vergeblichen Versuchen, dich zu bessern, und
    deinen sich immer wiederholenden Rückfällen, und mit deinem lebenslänglichen Warten auf ein Glück, das dir nicht
    beschieden ist und das du nicht erringen kannst.‹
    Aber während die leblosen Gegenstände so zu ihm sprachen, sagte ihm eine andere Stimme in seinem Inneren, man
    dürfe sich

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