Anna Karenina
nicht zu einem Knechte der Vergangenheit herabwürdigen, und der Mensch könne aus sich alles machen. Und
auf diese Stimme hörend, ging er in die Ecke, wo er zwei schwere Gewichte stehen hatte, und hob sie turnermäßig in
die Höhe, um sich dadurch in eine frische, mutige Stimmung zu versetzen. Aber da wurden vor der Tür knarrende
Schritte vernehmbar, und eiligst stellte er die Gewichte wieder hin.
Der Verwalter trat ein und berichtete, daß gottlob alles in Ordnung sei, machte aber zugleich die Mitteilung,
daß der Buchweizen auf der neuen Darre von unten angebrannt sei. Über diese Nachricht war Ljewin sehr ärgerlich.
Die neue Darre hatte er zum Teil nach seinen eigenen Vorschlägen errichten lassen. Der Verwalter war immer gegen
diese Darre gewesen und meldete nun mit einem verhaltenen Gefühle des Triumphes, daß der Buchweizen angebrannt sei.
Ljewin war fest überzeugt, daß, wenn der Buchweizen angebrannt war, dies nur von einer Nichtbeachtung der
Vorsichtsmaßregeln gekommen sein konnte, die er dem Verwalter schon hundertmal eingeschärft hatte. Er war sehr
verdrießlich und erteilte dem Verwalter einen Verweis. Es gab aber auch ein wichtiges Ereignis erfreulicher Art:
Pawa, die beste Kuh, hatte gekalbt, ein teueres Stück, das auf einer Ausstellung angekauft war.
»Kusma, gib mir den Schafpelz her! Und Sie, Sie können eine Laterne bringen lassen; ich will hingehen und mir es
mal ansehen«, sagte er zu dem Verwalter.
Der Stall für die wertvolleren Kühe lag gleich hinter dem Hause. Ljewin ging über den Hof an dem großen
Schneehaufen beim Fliederstrauche vorbei und gelangte so zum Stalle. Ein warmer, stark riechender Düngerdampf
schlug ihm entgegen, als die angefrorene Tür geöffnet wurde, und verwundert über das ungewohnte Licht der Laterne,
regten sich die Kühe auf dem frischen Stroh. Der glatte, schwarz gescheckte, breite Rücken einer Holländer Kuh
schimmerte im Halbdunkel. Berkut, der Bulle, lag mit seinem Ring in der Lippe da und machte Anstalten, aufzustehen;
aber er besann sich eines anderen und schnaufte nur ein paarmal, als die Besucher vorbeigingen. Pawa, die rote
Prachtkuh, groß wie ein Nilpferd, drehte sich rückwärts, um ihr Kälbchen vor den Eintretenden zu verdecken, und
beschnupperte es.
Ljewin trat in den Verschlag hinein und hob das rotscheckige Kälbchen auf seine schwankenden, langen Beine. Die
aufgeregte Pawa wollte schon ein Gebrüll ausstoßen, beruhigte sich aber wieder, als Ljewin ihr das Kalb wieder
hinschob, und begann, schwer atmend, es mit ihrer rauhen Zunge zu belecken. Das Kalb stieß suchend mit dem Maule
seine Mutter in die Weichen und krümmte das Schwänzchen.
»Leuchte mal hierher, Fjodor; hier halte die Laterne her!« sagte Ljewin, der das Kalb besah. »Es artet nach der
Mutter, wenn es auch die Farbe vom Vater hat. Ein sehr schönes Tier. Lang, mit schmalen Weichen. Wasili
Fedorowitsch, nicht wahr, es ist schön?« wandte er sich an den Verwalter; in seiner Freude über das Kalb hatte er
ihm den angebrannten Buchweizen schon vergeben.
»Nach welchem der Eltern könnte es denn auch schlecht sein?« erwiderte der Verwalter. »Ja, und dann ist der
Agent Semjon am Tage nach Ihrer Abreise angekommen. Wir werden wohl mit ihm einen Vertrag über Arbeiter schließen
müssen, Konstantin Dmitrijewitsch. Über die Maschine habe ich Ihnen schon früher Bericht erstattet.«
Durch diese eine schwebende Frage sah sich Ljewin wieder mitten in das ganze Getriebe seiner großen,
verwickelten Wirtschaft hineinversetzt. Vom Kuhstall ging er unmittelbar ins Kontor und sprach dort mit dem
Verwalter und dem Agenten Semjon; dann kehrte er in das Haus zurück und ging sogleich ins Wohnzimmer hinauf.
27
Es war ein großes, altertümliches Haus, und obwohl Ljewin es allein bewohnte, so benutzte er doch sämtliche
Zimmer und ließ sie alle heizen. Er wußte, daß dies töricht war; er wußte, daß es sogar unrecht von ihm war und
seinen jetzigen neuen Plänen zuwiderlief; aber dieses Haus war für Ljewin eine ganze Welt. Es war die Welt, in der
sein Vater und seine Mutter gelebt hatten und gestorben waren. Sie hatten darin ein Leben geführt, das Ljewin als
geradezu ideal betrachtete und das er mit seiner Frau und seinen Kindern zu erneuern gehofft hatte.
An seine Mutter konnte sich Ljewin kaum erinnern; aber die Vorstellung, die er sich von ihr machte, trat ihm an
die Stelle einer geheiligten Erinnerung, und seine künftige Gattin sollte –
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