Anna Karenina
erwiesen, und
die Eintracht des Familienlebens war an derselben Stelle von neuem zerbrochen. Etwas Bestimmtes lag nicht vor, aber
Stepan Arkadjewitsch war fast nie zu Hause; Geld war gleichfalls kaum je vorhanden, und Dolly wurde beständig von
dem Verdacht gemartert, daß er ihr wohl wieder untreu sei; nur suchte sie diesen Verdacht jetzt absichtlich zu
verscheuchen, um nicht von neuem die Qualen der Eifersucht durchmachen zu müssen. Der erste Anfall von Eifersucht
konnte, nachdem er einmal überstanden war, sich allerdings nicht in gleicher Heftigkeit wiederholen, und nicht
einmal die tatsächliche Entdeckung einer neuen Untreue hätte auf sie so wirken können wie das erste Mal. Eine
solche Entdeckung hätte aber doch eine Störung in ihre gewohnte häusliche Tätigkeit hineingebracht, und so ließ sie
sich denn betrügen und verachtete ihn und noch mehr wegen dieser Schwäche sich selbst. Überdies quälten sie
fortwährend allerlei Sorgen um die große Familie: bald wollte die Ernährung des Säuglings nicht recht vonstatten
gehen, bald ging ein Kindermädchen ab, bald wurde, wie das gerade jetzt der Fall war, eines der Kinder krank.
»Nun, wie geht es bei dir zu Hause?« fragte die Mutter.
»Ach, maman, wir haben viel Kummer. Lilly ist krank geworden, und ich fürchte, es ist Scharlach. Darum bin ich
gleich jetzt hergekommen, um mich nach Kitty zu erkundigen; denn wenn die Krankheit sich wirklich zu Scharlach
entwickeln sollte, was Gott verhüten möge, so kann ich das Haus nicht mehr verlassen.«
Auch der alte Fürst kam jetzt, nachdem der Arzt weggefahren war, aus seinem Arbeitszimmer, hielt seiner Tochter
Dolly seine Backe zum Kusse hin, wechselte mit ihr ein paar Worte und wandte sich dann an seine Frau:
»Was habt ihr denn beschlossen? Werdet ihr reisen? Nun, und ich? Was wollt ihr mit mir anfangen?«
»Ich möchte meinen, du bleibst am besten hier, Alexander«, antwortete seine Frau.
»Wie ihr wollt.«
»Maman, warum soll denn Papa nicht mit uns fahren?« fragte Kitty. »Dann hat er mehr Vergnügen und wir auch.«
Der alte Fürst stand auf und strich mit der Hand freundlich über Kittys Haar. Sie hob das Gesicht in die Höhe
und blickte, sich zu einem Lächeln zwingend, ihn an. Sie hätte immer die Empfindung, daß er sie besser als alle
anderen in der Familie verstehe, obgleich er meist nur wenig mit ihr sprach. Als die Jüngste war sie des Vaters
Lieblingstochter, und es schien ihr, als mache seine Liebe zu ihr ihn scharfblickend. Als ihr Blick jetzt seinen
guten, blauen Augen begegnete, die sie prüfend ansahen, da war es ihr, als durchschaue er sie durch und durch und
verstehe alle ihre traurigen Gedanken. Errötend reckte sie sich zu ihm auf, in Erwartung eines Kusses; aber er
streichelte ihr nur ein paarmal das Haar und bemerkte:
»Diese dummen Chignons! Bis zu seiner wirklichen Tochter kommt man gar nicht durch; man liebkost nur die Haare
toter Weiber. Nun, wie ist's, liebe Dolly?« wandte er sich an seine älteste Tochter. »Was macht dein Matador?«
»Es ist nichts Besonderes davon zu sagen, Papa«, antwortete Dolly, die verstand, daß er ihren Mann meinte. Und
sie konnte sich nicht enthalten, mit einem spöttischen Lächeln hinzuzufügen: »Er ist immer außer dem Hause; ich
bekomme ihn fast gar nicht mehr zu sehen.«
»Ist er denn noch nicht auf das Gut gefahren, um den Wald zu verkaufen?«
»Nein, er hat es immer vor.«
»Soso!« murmelte der Fürst. »Soll ich mich also auch reisefertig machen? Ganz wie du befiehlst«, wandte er sich
an seine Frau und setzte sich wieder hin. »Weißt du was, Katja?« fuhr er, sich seiner jüngsten Tochter zuwendend,
fort. »Du solltest einmal eines schönen Tages beim Aufwachen zu dir sagen: ›Ach, ich bin ja ganz gesund und
vergnügt; ich will wieder einmal mit Papa in der frischen, kalten Morgenluft einen Spaziergang machen.‹ Wie denkst
du darüber?«
Was der Vater da sagte, klang durchaus harmlos; und doch geriet Kitty bei diesen Worten in die größte
Verlegenheit und verlor völlig die Fassung wie ein ertappter Verbrecher. ›Ja, er weiß alles, er durchschaut alles
und will mir mit diesen Worten sagen, daß, wenn man sich auch schämt, man doch seine Schmach überstehen muß.‹ Sie
fand nicht den Mut, etwas zu antworten. Sie setzte dazu an, brach aber plötzlich in Tränen aus und stürzte aus dem
Zimmer.
»Das kommt von deinen Späßen!« schalt die Fürstin ihren Mann ärgerlich. »Und so machst du es
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