Anna Karenina
Scham ganz verstörten und wie betäubten Patientin
wusch sich der berühmte Arzt sorgfältig die Hände und ging dann in den Salon und sprach mit dem Fürsten. Der Fürst
zog ein finsteres Gesicht und räusperte sich wiederholt, während er dem Arzt zuhörte. Als ein Mann von
Lebenserfahrung, von gutem Verstande und vortrefflicher Gesundheit glaubte er nicht an die medizinische
Wissenschaft und war in tiefster Seele ergrimmt über diese ganze Komödie, und zwar um so mehr, als er vielleicht
der einzige war, der die Ursache von Kittys Krankheit völlig erkannt hatte. ›Du Blaffköter!‹ dachte er, indem er im
stillen diesen Ausdruck der Jägersprache auf den berühmten Arzt übertrug, dessen Geschwätz über die
Krankheitsmerkmale bei seiner Tochter er anhörte. Unterdessen hielt der Arzt seinerseits nur mühsam auf seinem
Gesichte einen Ausdruck der Geringschätzung gegen diesen rückständigen alten Junker zurück und ließ sich nur ungern
zu dem tiefen Stand seiner Fassungskraft herab. Er war sich darüber klar, daß es eigentlich keinen Zweck habe, mit
dem Alten zu reden, und daß die Hauptperson in diesem Hause die Mutter sei. Vor ihr beabsichtigte er seine Perlen
auszuschütten. Da trat die Fürstin mit dem Hausarzt in den Salon. Der Fürst trat zur Seite, bemüht, es sich nicht
merken zu lassen, wie lächerlich ihm diese ganze Komödie vorkam. Die Fürstin war verlegen und wußte nicht, was sie
tun sollte. Sie hatte Kitty gegenüber ein Schuldbewußtsein.
»Nun, Doktor, entscheiden Sie über unser Schicksal!« sagte die Fürstin. »Sagen Sie mir alles!« Sie wollte noch
hinzufügen: »Ist noch Hoffnung?«, aber ihre Lippen bebten, und sie brachte es nicht fertig, diese Frage
auszusprechen. »Nun, wie steht es, Doktor?«
»Ich werde mich sofort mit meinem Kollegen besprechen, Fürstin, und dann die Ehre haben, Ihnen meine Ansicht
vorzutragen.«
»Dann sollen wir die beiden Herren also wohl allein lassen?«
»Wenn es Ihnen so gefällig ist.«
Seufzend ging die Fürstin hinaus; auch der Fürst verließ das Zimmer.
Als die beiden Ärzte miteinander allein geblieben waren, begann der Hausarzt schüchtern seine Meinung
darzulegen, die dahin ging, daß hier der Beginn eines tuberkulösen Prozesses vorliege, daß aber ... und so weiter.
Der berühmte Arzt hörte ihm zu und sah auf einmal während der Auseinandersetzungen des anderen auf seine dicke
goldene Uhr.
»Ja«, sagte er. »Aber ...«
Der Hausarzt verstummte achtungsvoll mitten in seiner Darlegung.
»Den Beginn eines tuberkulösen Prozesses genau festzustellen, sind wir, wie Sie wissen, nicht imstande; vor dem
Auftreten von Kavernen läßt sich nichts Zuverlässiges sagen. Aber wir können Vermutungen hegen. Und Merkmale sind
ja vorhanden: schlechte Ernährung, nervöse Erregtheit und so weiter. Die Frage ist die: Was ist bei Verdacht eines
tuberkulösen Prozesses zu tun, um die Ernährung zu fördern?«
»Aber Sie wissen ja, daß da immer geistige, seelische Ursachen dahinterstecken«, erlaubte sich der Hausarzt mit
einem feinen Lächeln einzuschalten.
»Ja, das versteht sich von selbst«, erwiderte der berühmte Arzt und sah dabei wieder nach der Uhr. »Verzeihung,
ist die Jauski-Brücke schon fertig, oder muß man immer noch den Umweg fahren?« fragte er. »So! Sie ist fertig. Nun,
dann kann ich in zwanzig Minuten da sein. Also wir sagten, daß die Aufgabe so zu stellen sei: die Ernährung fördern
und die Nerven stärken. Eines hängt mit dem anderen zusammen; wir müssen von beiden Seiten her zu wirken
suchen.«
»Wie wäre es mit einer Reise ins Ausland?« fragte der Hausarzt.
»Ich bin ein Gegner solcher Reisen ins Ausland. Und beachten Sie, bitte, dies: Wenn wirklich der Beginn eines
tuberkulösen Prozesses vorliegt, was wir nicht wissen können, so hilft eine Reise ins Ausland nichts. Es ist
unbedingt ein Mittel erforderlich, das die Ernährung fördert und nicht schädlich wirkt.«
Und nun setzte der berühmte Arzt seinen Plan einer in Moskau durchzuführenden Kur mit Sodener Brunnen
auseinander; bei der Entscheidung für diesen Brunnen war offenbar der Hauptgesichtspunkt der, daß er nicht schaden
könne.
Der Hausarzt hörte ihm aufmerksam und achtungsvoll bis zu Ende zu. Dann bemerkte er:
»Zugunsten einer Reise ins Ausland möchte ich doch auf die Veränderung der gewohnten Lebensweise hinweisen sowie
auf die Entfernung aus einer Umgebung, die mancherlei Erinnerungen wachruft. Und dann wünscht es
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