Anna Marx 9: Feuer bitte
wir das Leben von rückwärts betrachten. Das Foto kann nicht älter als zwei Jahre sein. Vorher hatte Julia braune Haare. Sie sind dann praktisch über Nacht grau geworden. Habe ich ihr nicht immer gesagt, sie soll sie färben lassen! Als ob es nicht reicht, alt zu sein: Man muss es nicht noch zur Schau stellen.« Sie greift an ihre Haare, deren Farbe Anna immer schon blendete. »Disziplin ist alles. Hat mein Mann stets gesagt.« Sie zeigt auf ein Bild eines sehr dicken Mannes. Wenn er Disziplin gepredigt hat, war diese Ehe auf Täuschung aufgebaut, denkt Anna. Und dass Eva Mauz ihren Mann zumindest einmal betrogen hat. Wenn es stimmt, was ihre Schwester in dem Brief schreibt.
»Warum hat Julia dieses Foto in der Hutschachtel versteckt?«
Anna kehrt von ihrem Ausflug in die Region Liebe und Betrug zurück in die Gegenwart. Verteidigt den Mann, dem sie nicht traut: »Es waren viele Bilder, Frau Mauz. Vermutlich hat sie diese vergessen, weil doch alle anderen so penibel eingeordnet und beschriftet waren. Es kann etwas bedeuten, muss aber nicht.«
»Finden Sie ihn!« Eva Mauz weint nicht mehr, sondern erteilt einen Befehl. Der Feldzug geht gegen den konkreten Feind, und Anna fühlt sich in der Defensive. Sie muss Liebling fragen. Sie wird ihn fragen, und es wird eine simple Erklärung für dieses Foto geben. Anna glaubt an Zufälle. An das Absurde und Unwahrscheinliche und an den Untergang der Welt. Daran, dass nichts stiller ist als eine geladene Kanone. Heinrich Heine. Ein besserer Dichter als Josef Gangwein.
»Ich will mein Bestes tun, halte aber den Poeten nach wie vor für den Hauptverdächtigen. Schließlich hatte Julia sein Gedichtbändchen in ihrem Regal.«
Eva Mauz ergreift Annas Hand über den Schreibtisch hinweg. »Finden Sie ihn. Damit ich wieder schlafen kann. Julia verfolgt mich. Sie will ihre Rache.«
Das war melodramatisch. Anna entzieht ihre Hand und lenkt sie zur Zigarettenpackung. Dieser Fall beginnt sie zu quälen. Lieblings Foto, Gangweins Gedichte, der schlaflose Racheengel. Als ob alles nicht schlimm genug wäre, beginnt Fjodor jetzt oben zu singen. Wagner, die Arie des Holländers. Die bekennende Wagnerfeindin hält sich an ihrer Zigarette fest und sieht auf den Gummibaum, der zu zittern scheint. Verzerrte Wahrnehmung. Annas Auge zuckt nervös, der Tick, der sie manchmal überfällt, wenn sie sich überfordert fühlt.
»Was ist das?« Eva Mauz hat den Kopf seitlich gesenkt und starrt zur Decke. Ihre Ohren zittern. Nein, es ist der Tick.
»Der ›Fliegende Holländer in der Interpretation eines Russen. Er heißt Fjodor und wohnt über mir.«
»Es klingt wundervoll«, sagt Eva Mauz, bevor sie von einem Weinkrampf geschüttelt wird, der schließlich Fjodors Gesang übertönt. Das Telefon klingelt, als ob es darauf gewartet hätte, einer grauenhaften Situation den geräuschvollen Rest zu geben. Anna hebt den Hörer ab, während sich ihre Klientin im Duett mit Fjodor in ihre Gehörnerven gräbt.
Sibylles Stimme klingt hysterisch: »Du musst sofort kommen, ich bin im Krankenhaus. Jonathan ist vom Wickeltisch … gefallen … was ist das für ein Lärm bei dir?«
Anna hat trotz allem die Pause vor dem Verb gehört. Drei Sekunden. Einundzwanzig Gramm. So viel wiegt die Seele, wenn die Theorie eines amerikanischen Sterbeforschers stimmt. So wenig. »Ist er verletzt?«
»Ich weiß es nicht. Ja. Du musst kommen.« Sie nennt Anna das Krankenhaus und legt sofort auf.
Eva Mauz ist ein Bild des Jammers, doch sie weint nicht mehr. Sie starrt Anna aus roten Augen an. »Wer ist verletzt? Haben Sie ihn gefunden?«
Ist sie verrückt geworden? »Nein. Das war meine Freundin. Ihr Sohn ist im Krankenhaus, und sie braucht meinen Beistand. Ich muss sofort los.«
Anna steht auf und sucht erst ihre Handtasche, die unter dem Schreibtisch liegt, und dann den Schlüssel, bis ihr einfällt, dass er im Türschloss steckt.
»Sie müssen mich mit diesem Fjodor bekannt machen, wenn wir den Fall abgeschlossen haben. Vielleicht kann ich einen Gesangsabend arrangieren.«
Eva Mauz ist in ihre Welt zurückgekehrt, und dazu passt die Sonnenbrille von Dior. Sie knöpft ihre grüne Kostümjacke zu, während sie aufsteht. »Aber Sie lassen sich doch nicht wegen dieser Sache von Ihrer Suche ablenken!«
»Keineswegs«, murmelt Anna, während sie ihrer Klienten den Weg in den Flur weist. Ihr Schirm hängt am Gummibaum, doch sie vergisst ihn. Eva Mauz zeigt auf den Baseballschläger, der neben der Eingangstür lehnt. »Und
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