Anna Marx 9: Feuer bitte
jugendliche Randalierer oder Ausländer in bedrohlicher Zusammenrottung – aber nicht die ganz normalen Verrückten dieser Stadt. Sie werden ignoriert – oder toleriert, was besser klingt fürs Berliner Herz. Schlägt es rechts oder links, so doch immer daneben. Seit Willy Brandt weg ist, gibt es keine Liebe mehr zwischen Volk und Politikern. Unter Berlinern sowieso nicht. Irre sind alle, aber natürlich immer die anderen.
Annas Bandscheiben schmerzten, deshalb hatte sie die Prada-Stelzen ausgezogen. Sie wich zwei jungen Männern aus, die arabische Terroristen sein könnten, vielleicht auf dem Weg ins »Adlon«, weil sie den Trick mit dem Hintereingang auch schon kannten. Sie dachte an den Orthopäden, der ihr beim letzten Besuch geraten hatte, vernünftiges Schuhwerk zu tragen, Übungen zu machen und sich mental auf die üblichen Altersbeschwerden einzustellen.
Mentales Training auf dem Weg vom »Adlon« zum Taxistand: Sie hat etwas versäumt zwischen Jugend und Alter: das Mittelalter. Anna fühlte sich zu lange jung, und jetzt ist sie alt. Was zum Teufel ist mit all der Zeit geschehen? Hat sie sie verschlafen, verraucht, versoffen? Und wenn sie die guten Jahre hinter sich hat, was soll jetzt noch groß kommen? Bandscheibenvorfälle? Demenz? Die Suche nach einem Altersheim, das nicht als Warteraum der Hölle erscheint?
»Kinder«, sagt Wanda Kroll, »sind der Jungbrunnen schlechthin. Man ist so mit ihnen beschäftigt, dass für Lebenskrisen kaum Zeit bleibt.« Sie ist mit den zwei Mädchen bei ihrer Mutter untergekrochen. Gott segne die Familie, auf die man zurückgreifen kann. Natürlich ist es keine Dauerlösung, und die alte Dame ist der neuen Situation nicht gewachsen. Das Verlangen, manchmal laut schreien zu müssen, kennt Wanda Kroll nur zu gut. Sie fühlt sich von der Dreieinigkeit modernen Frauenlebens schon lange überfordert: Mann, Kinder und Beruf. Dass sie nun eine Last über Bord geworfen hat, macht sie unglücklich. Nichts ist leichter geworden. Sie wirft sich Versagen vor und vermisst das treulose Miststück, das in der gemeinsamen Wohnung hockt, die jetzt als sturmfreie Bude dient. Sie hätte nicht ausziehen dürfen, das war ein Fehler, den sie sich nicht verzeihen kann. Dies alles erzählt Wanda Kroll der Freundin des Mordopfers, die ihr zufällig über den Weg lief, und jetzt sitzen sie im »Opernpalais«, trinken Kaffee und plaudern über schlechte Zeiten.
Anna schielt nach dem Kuchenbuffet. Neben Zigaretten und Alkohol allem irdischen Vergnügen zu entsagen erscheint ihr als maßlos. Asketen sind maßlos, Mohnkuchen hingegen sind ein Stück vom Glück. Weshalb sie einen bestellt, und die Kommissarin schließt sich an. Sie ist sehr schlank, das mag Anna prinzipiell nicht an Frauen. Neidgeborene Abneigung, und sie bemüht sich, darüber hinwegzulächeln. Wanda Kroll ist nett und scheint Probleme zu haben, Berufs- und Privatleben zu trennen. Dass Kinder »Jungbrunnen« sind, bezweifelt Anna allerdings, denn tiefe Ringe unter den Augen zeugen von vielen schlaflosen Nächten.
Es interessiert sie nicht, doch die Frage muss gestellt werden: »Wie alt sind Ihre Kinder?«
»Zwei und vier, wir wollten es schnell hinter uns bringen, um … ach, ist ja egal, was wir wollten. Es kommt immer anders, als man denkt. Wollten Sie nie Kinder?«
Der süße Mohn schmilzt auf Annas Zunge. Sie denkt nach, findet aber keine richtige Antwort und schüttelt stumm den Kopf. Mohnkuchen ist ein gutes Rezept gegen Rückenschmerzen, sie fühlt sich fast frei davon und wird alle orthopädischen Ratschläge auf ein nächstes Mal verschieben. Sich auf das Wesentliche konzentrieren: Glück und Erfolg.
»Was macht der Fall Liebling? Sind Sie ein Stück weitergekommen?«
Ich habe jetzt andere Sorgen, denkt Wanda: Ich muss schnellstens eine Wohnung finden, einen neuen Kindergarten und einen Scheidungsanwalt, der das Miststück das Grauen lehrt. Sie sollte nicht mit einer Zeugin über den Fall reden, doch in Zeiten, in denen alles aus dem Gleichgewicht scheint, kommt es darauf auch nicht mehr an. »Wir haben keine heiße Spur, wenn Sie das meinen. In den beiden Wohnungen des Opfers wurde nichts Relevantes gefunden. Sein Papierkram ist in heilloser Unordnung. Er war ein Chaot, wussten Sie das?«
»Ja, und mir hat das gefallen. Der Bierdeckel zum Beispiel, und dass er seine Steuerunterlagen in der Badewanne aufbewahrte. Er duschte ohnehin lieber.«
»Fehlt er Ihnen sehr?«, fragt die Kommissarin und denkt an ihren Mann, das
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