Anna Marx 9: Feuer bitte
Schwein. Sie hat ihm Briefe geschrieben, die sie nie abschickte. Führt Selbstgespräche mit ihm, die zu keinen Erkenntnissen führen, und es fällt ihr schwer, sich auf Fälle zu konzentrieren. Wenn sie sich nicht zusammenreißt, werden sie sie ins Archiv versetzen oder in die Asservatenkammer.
»Ich habe ihn nicht genug geliebt«, sagt Anna. Klingt das wie eine Entschuldigung? Hartherzig, so hat Martin sie auch genannt in der letzten Nacht. Aber Anna will nicht glauben, dass er Recht hatte. In der Liebe gibt es das überhaupt nicht: Recht und Unrecht. Schuldig der Feigheit, sich nicht auf den erstbesten Mann zu stürzen, der behauptete, dass es Liebe sei, mehr will Anna nicht bekennen. »Haben Sie seinen Zwillingsbruder schon ausfindig gemacht?« Sie fragt das leichthin, doch sie giert nach einer Antwort.
»Den Haupterben? Nein, der Typ kann überall auf der Welt sein. Es fanden sich übrigens keine Kindheits- oder Jugendfotos, die die beiden zeigen. Das ist seltsam, nicht wahr? Es ist, als ob David Liebling nie existiert hätte. Die Sekretärin hat uns den Tipp mit dem Bruder gegeben. Aber sie hat ihn angeblich nie zu Gesicht bekommen.«
»Es gab keine Liebe zwischen den Brüdern«, sagt Anna und erzählt der Kommissarin, was sie über das Verhältnis der beiden weiß. Bis auf das kleine Detail, dass sie David im Fall der Julia Mauz sucht. Warum sie das verschweigt, weiß Anna nicht so genau. Es ist, als müsste sie noch einen Trumpf in der Hand behalten. »Sie suchen ihn aber doch?«
»Ja, sicher, aber viel verspreche ich mir nicht davon. Die Sekretärin war übrigens die Geliebte von Martin Liebling. Wussten Sie das?«
»Exgeliebte. Die Geschichte zwischen den beiden war für ihn seit langem vorbei.«
»Sie stellt das aber ein bisschen anders dar«, sagt Wanda Kroll und verflucht in Gedanken alle Geliebten dieser Welt. »Jedenfalls hätte Alicia Winter ein perfektes Motiv. Und Zeugen dafür, dass sie zur fraglichen Zeit im Brüsseler Büro war, hat sie nicht. Nach Berlin geflogen kann sie allenfalls unter falschem Namen sein, das haben wir gecheckt. Warum erzähle ich Ihnen das alles?«
Anna führt mit dem Zeigefinger einen Mohnkrümel zum Mund. Der letzte, den sie auf dem Teller finden konnte. Nichtrauchen macht hungrig, und wäre sie so schlank wie Wanda Kroll, sie würde Stunden in Konditoreien verbringen. »Ich weiß nicht … weil ich schweige wie ein Grab? Und ebenso wie Sie möchte, dass der Fall aufgeklärt wird? Alicia war übrigens bei mir. Wir haben uns kurz geprügelt, dann hat sie mir erzählt, dass sie Bruno Laurenz für den Täter hält. Weil sie glaubt, dass er Martin eine Diskette gestohlen hat. Auf der Liebling offenbar Informationen über EU-Leute gespeichert hat. Er handelte mit Beziehungen und Geheimnissen, und ich meine, er hat unverschämt gut damit verdient. Aber so ganz koscher waren seine Geschäfte wohl nicht. Vielleicht hat sich einer der Betroffenen zur Wehr gesetzt? Geheimnisse können mörderisch sein.«
Wanda Kroll hat zugehört, doch gleichzeitig ihr Handy überprüft und eine SMS ihrer Mutter gelesen. Die Mutter droht mit ihrer Kündigung als Großmutter. Das ist die wahre Katastrophe. Anna Marx hat ja keine Ahnung. »Bruno Laurenz ist aus dem Rennen, sozusagen. Er ist gestern in Brüssel von einem Auto überfahren worden. Unfall mit Fahrerflucht. Was ihn als Täter keineswegs ausschließt, denn das Alibi einer Ehefrau muss ja nicht glaubhaft sein. Ich habe die belgischen Kollegen gebeten, nach der Diskette zu suchen und die Frau nochmals zu befragen. Ich würde diesen Fall so verdammt gerne abschließen. Danach nehme ich Urlaub und suche eine Wohnung. Kennen Sie einen guten Scheidungsanwalt?«
»Nein«, sagt Anna, obwohl das nicht stimmt. Eine Reihe ihrer Kundinnen sind, nachdem Annas Spionagedienste abgeschlossen waren, zu Scheidungsanwälten gegangen. Die betrogenen Frauen zogen stets Männer vor, weil sie ihnen offenbar mehr juristische Gemeinheiten zutrauten. Frauen sind seltsame Wesen von überirdischer Widersprüchlichkeit – und Anna schließt sich selbst keineswegs aus. »Sind Sie sicher, dass es ein Unfall war? Ich meine, zwei Todesfälle hintereinander … das riecht ein bisschen, oder?«
Sie hat eine mörderische Phantasie, denkt Wanda Kroll. Natürlich ist nichts auszuschließen, doch zurzeit neigt die Kommissarin dazu, an Zufälle zu glauben. Wenn sie nicht zufällig den Reinigungsbeleg in der Aktentasche ihres Mannes gesucht und er nicht zufällig eine
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