Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Marx 9: Feuer bitte

Anna Marx 9: Feuer bitte

Titel: Anna Marx 9: Feuer bitte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
Vom Netzwerk:
ertragen, wenn man jemanden nicht mag.
    Die Frauen gehen schweigend durch die Glastür zum Lift. Es riecht nach Desinfektionsmitteln. Die Ratten sind in der Stadt, es liegt am Müll, und Anna hält die Luft an, bis sich die Lifttür hinter ihr geschlossen hat.
    »Oben riecht man es nicht so«, sagt Alicia, während sie aufwärts fahren. Sie steigen schweigend aus, und Alicia sagt: »Dort hat er gestanden.«
    »Sie haben ihn von hinten gesehen.« Anna sieht Ratten auf dem Marmorboden, doch es sind nur Schattenbilder in dem diffus beleuchteten Flur, der zu Martins Büro führt. »Zwielichtig« ist das Wort, das Anna einfällt, und es passt irgendwie zu den Lieblings, den monozygotischen Brüdern mit identischem Erbgut. Die Tendenz führt von Süden nach Norden: In Afrika gebärt jede vierte Frau Zwillinge, während Mehrgeburten in Europa relativ selten sind. Was sich ändern könnte durch die Zunahme künstlicher Befruchtungen. Anna überlegt, wie Sibylle mit Jonathan in doppelter Ausführung fertig werden würde. Sie hat versprochen, die Freundin anzurufen, und es natürlich vergessen. Selbst ihr Handy hat sie nicht eingeschaltet, und sie tut es jetzt, während Alicia das Büro aufschließt.
    Es ist so elegant, wie Anna es in Erinnerung hat, doch aufgeräumter, leerer. »Die Polizei hat Akten mitgenommen und seinen Laptop«, sagt Alicia, während sie durch ihr Reich schreitet, ihre Heimat, die einzig vertraute Welt jenseits ihrer kleinen Wohnung in einer kleinen Straße in Saint-Gilles, das nicht zu den noblen Vierteln der Stadt gehört. Alicia kann sich nicht vorstellen, dies alles hier zu verlassen. Sie wird sich eine neue Arbeit suchen müssen. Weiß, dass sie es nicht kann. Es gibt nur einen Mann in ihrem Leben. Die Marx versteht das nicht. Jeder ist sein eigenes Universum, und jeder, der es berührt, ist ein Fremder.
    Anna sieht sich um, als wäre sie zum ersten Mal hier. Herzförmige Gegenstände in Alicias Büro sind ein gewisser Stilbruch, doch hat Martin vermutlich großzügig darüber hinweggesehen. Er war, denkt Anna, während sie sich umsieht, ein Mann mit vielen guten Zügen. Diejenigen, die er auf dem Abstellgleis geparkt hatte, kannte sie nicht – oder kaum. Inzwischen zweifelt sie an vielem, was sie über ihn dachte, nur daran nicht: dass er tot ist. Nicht mal im höheren Kontext glaubt Anna an die Wiederauferstehung.
    Auf seinem Schreibtisch liegen Kondolenzkarten, Alicia hat sie sorgfältig drapiert, als wolle sie einen Schrein schaffen. In der Mitte steht sein Foto in einem herzförmigen Rahmen. Alicia vor ihrem Schrein sieht aus, als würde sie in Kürze in Tränen ausbrechen.
    »Sein Terminkalender interessiert mich«, sagt Anna. In puncto Herzlosigkeit hat sie nichts mehr zu verlieren.
    »Die Polizei hat ihn mitgenommen. Aber ich habe seine Termine im Computer. Martin hatte keine Geheimnisse vor mir.«
    Doch, denkt Anna. Jeder hat Geheimnisse, sonst wäre er ungeliebt, verachtet, verloren. Wir brauchen die Fassade, um es uns dahinter gemütlich, gemein und pornographisch einzurichten. Martin hätte nicht gewollt, dass man nach seinem Tod sein Leben seziert. Doch es ist die einzige Möglichkeit, seinem Mörder näher zu kommen. Seiner Mörderin: Sie hat sich noch nicht ganz von dem Gedanken verabschiedet, dass Alicia es sein könnte.
    Das Bett im Nebenraum ist frisch bezogen, auf dem Beistelltisch stehen Blumen. Alicia zeigt Anna das Badezimmer, in dem noch Martins Aftershave und seine Zahnbürste stehen. Sie holt aus ihrem Büro einen Computerausdruck mit den letzten Terminen, die Martin wahrgenommen hat. Anna studiert ihn, nachdem die Suche nach der Lesebrille erfolgreich war.
    »Möchten Sie Kaffee und Kuchen?«
    »Lieber Tee ohne alles. Ich ändere meine Fütterungsgewohnheiten, und mein Körper mag das nicht.«
    Alicia mustert Anna. »Wollen Sie etwa abnehmen?«
    Anna blickt über die Brille hinweg. »Immer – und fast immer ohne Erfolg. Ich wünschte, ich wäre so schlank wie Sie. Ich würde essen ohne Ende.«
    Das Kompliment fällt auf harten Boden. »Ich hatte nie großen Appetit«, sagt Alicia und geht in die kleine Küche, die an ihr Büro anschließt. Martin hat sehr viel Kaffee getrunken, Cognac manchmal und Rotwein natürlich. Manchmal hat er ihr ein Glas angeboten, und sie hat nicht Nein gesagt. Doch Alkohol schmeckt ihr nicht, sie hat Angst vor dem Verlust der Selbstkontrolle. An die Nacht, in der Martin sie verführte (oder war es umgekehrt?), kann Alicia sich kaum noch erinnern.

Weitere Kostenlose Bücher