Anna Marx 9: Feuer bitte
eine lange Nacht, diese letzte mit Martin, und nur in Bruchstücken kommt die Erinnerung wieder an das, was er sagte. Sie haben beide zu viel getrunken. Anna wünscht sich, sie hätte es nicht getan und besser zugehört.
David geistert durch Annas Träume. Sie sieht ihn mit Julia Mauz, an der Bar des »Adlon«, im Spielcasino, wo er nach Mitternacht am Roulettetisch steht und auf die Dreizehn setzt. Er trägt einen dunklen Anzug, so wie Martin, doch die Krawatte fehlt. Der Hemdkragen ist offen, und er ist unrasiert. Das war Martin nie.
Anna hat das Casino gefunden, in dem David einen Teil seiner Nächte verbrachte. Es war nicht Monte Carlo, doch immerhin zockte er unter dem goldenen Dach der Spielbank am Potsdamer Platz. Drei Etagen Glück oder Unglück, und achtzig Prozent von Letzterem kassiert Vater Staat. Vierzig Euro von Anna, die nur wenige Minuten brauchte, um den Einarmigen Banditen mit Geld zu füttern, das er nicht mehr ausspuckte. Er ließ nicht mit sich reden, und so verabschiedete sie sich vom gefräßigen Monster und stand eine Weile an den Roulettetischen, auf denen für sie unvorstellbare Summen in eine kleine Kugel investiert wurden.
Die Kellnerin, die Anna bediente, erkannte den Mann auf dem Foto. Seinen Namen wusste sie nicht, doch sie erinnerte sich, dass er immer nur auf die Farbe Rot und auf diese eine Zahl gesetzt habe: Dreizehn. Sie konnte sich so gut an ihn erinnern, weil er enorme Trinkgelder gab und unwiderstehlich lächelte, selbst wenn er verlor. »Ein großer Spieler vor dem Herrn«, sagte die Kleine, die sehr hübsch war und Annas Zwanziger in ihren herausfordernden Ausschnitt steckte. Sie serviert Getränke und wartet auf den Champagnermann, doch die überwiegend männlichen Besucher denken zu ihrem Leidwesen nicht an Sex, sondern nur an Zahlen oder Karten. Sie verneinte Annas Frage, ob David je in Begleitung gekommen sei. »Spieler sind die einsamsten Menschen der Welt«, sagte sie, und dass sie eigentlich Philosophiestudentin sei und nur vorübergehend im Casino jobbe.
Die Lautsprecherstimme ruft zum Betreten des Flugkörpers auf und reißt Anna aus ihren Träumen. Handys werden ausgeschaltet, Zeitungen gefaltet, Aktentaschen geschlossen, die Bordkarten gezückt. Anna folgt den flugwilligen Schafen und findet ihren Platz am Fenster. Er ist für Zwerge geschaffen, und ihre Beine sind zu lang. Die Tasche lässt sich oben nicht verstauen, weil Handgepäck in der Überzahl ist. Ein ausgebuchter Flug von Eurokraten, und neben Anna sitzt einer, der über den Sitz zu quellen scheint und sie bedrohlich einengt. Hat sie Fliegen nicht schon immer gehasst? Sie schließt die Augen und wartet darauf, dass es vorübergeht.
Sibylle hat stets davon geträumt, im Flugzeug dem Mann ihres Lebens zu begegnen. Das ist ein Witz. Die wenige Male, die Anna geflogen ist, saß sie neben plärrenden Kindern oder fetten Männern, eine Zeugin Jehovas war auch darunter, die Anna bekehren wollte, und eine Frau, die den ganzen Flug über würgend über ihrer Plastiktüte saß und nach der Landung applaudierte, als wäre sie in einem guten Stück gewesen.
Jetzt rollen sie, und Anna denkt an Mohnkuchen, weil sie weiß, dass Starten und Landen die gefährlichsten Augenblicke des Fliegens sind. Wer weiß, vielleicht sitzt im Cockpit ein Mann, der davon träumt, mit einem großen Knall zu sterben und vor allem nicht allein. Zwei Reihen vor ihr unterhalten sich zwei Araber, die wie Flugzeugentführer aussehen. Angstschweiß und Vorurteile sind ein Paar, und der Mann neben ihr liest die »Bildzeitung«, das passt auch. Den Augenblick des Abhebens spürt sie in ihrem Bauch, und dann nichts mehr. Sie schläft ein und träumt von Zwillingen. Von Gott und dem Teufel. War es Martin, der gesagt hatte, dass die Häretiker im Mittelalter Gott und Teufel als Zwillingsbrüder betrachteten? Sol Niger, der König der Unterwelt nach gnostischer Vorstellung, und sein Zwilling, der Sonnengott Apollo. Martin, der Lichtjahre von Esoterik entfernt war, sprach in dieser Nacht viel von Mythen. Von zwei Seelen, zwei Leben, und Anna, in ihrem Traum, hört ihm zu, während seine Stimme immer leiser wird. Martin erscheint durchsichtiger, löst sich sozusagen vor ihren Augen auf. Er sagt, dass sie ihm auf seinen Berg folgen muss, und sie hat doch Höhenangst, und er beginnt irre zu lachen, bevor er sich in milchigen Nebel verwandelt oder Rauch, von dem ihre Augen tränen. Sie fühlt sich schuldig und ruft seinen Namen …
Eine Hand
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