Anna Marx 9: Feuer bitte
Den Filmriss bedauert sie unendlich, doch Martin sagte, dass der Sex unglaublich gut war. Warum hat er sie dann mit anderen betrogen?
»Wer ist C. Feigen?«, ruft Anna. Sie hat sich den einzigen bequemen Sessel in Alicias Büro ausgesucht und die Schuhe ausgezogen. Alicia antwortet aus der Küche: »Eine Autorin, die Martin für ein Buch interviewt hat, das sie schreiben will. Eine Blondine, für die hat er eine Schwäche, aber im Grunde hat er alles mitgenommen, was ihm unter die Finger kam. Seine Frau Helena war die Schlimmste von allen. Sie ist stark gealtert, es wird wohl an der Tropensonne liegen.«
Alicia hat sehr blasse, fast weiße Haut und übertrifft damit Anna, die den typischen Teint der Rothaarigen besitzt und obendrein noch ein paar Sommersprossen auf der Nase. Alicia, denkt Anna, pflegt den erbarmungslosen Blick der Frauen auf ihre Geschlechtsgenossinnen. Na ja, sie selbst ist auch nicht frei davon. Komisch, dass der Blick bei Männern versagt. Die dürfen fett und faltig und behaart sein und sind immer noch attraktiv für Frauen. Sie notiert sich die Handynummer der Autorin, für alle Fälle.
Alicia kommt mit einem Tablett zurück und schenkt Tee ein. Früher hat Anna nur dann Tee getrunken, wenn sie krank war.
Mit Rum natürlich und sehr viel Zucker. Jetzt nippt sie an dem heißen Wasser mit Geschmack und verbrennt sich die Zunge. Alicia, die Sadistin, bohrt ihre Gabel in Sahnetorte. Die einzige Antwort darauf wäre jetzt eine Zigarette. Anna beißt sich auf die Zunge. Der Kampf ist nicht fair, denn ihr Feind arbeitet mit allen Tricks. Nur eine Zigarette, flüstert die Gier, und danach hörst du wieder auf. Du bist keine Heroin, Anna, sondern nur schwaches Fleisch. Gib nach, das ist viel leichter … und du wirst es ohnehin nicht schaffen …
»Stimmt etwas nicht? Möchten Sie doch von der Torte?«
»Nein«, sagt Anna mit verlangendem Blick auf den Kuchenteller: »Nach dem Terminplan hatte Martin das letzte Treffen mit John Schultz. Das ist doch dieser amerikanische Tabaklobbyist. Wissen Sie, worum es ging?«
Alicia lächelt unschuldig. Sie hat am Telefon mitgehört, viele Male. Anfangs tat sie es, um seine erotischen Eskapaden zu überwachen, dann wurde es zur lieben Gewohnheit. Sie wollte alles über Martin wissen. Weil er doch ihre zweite Hälfte war. »Um die Neubesetzung der Kommission. Schultz beziehungsweise die Leute, die er vertritt, wollten im Vorfeld mitmischen. Es sollen keine Leute reinkommen, die die Auflagen für die Tabakkonzerne weiter verschärfen. Und es ging wohl auch um einen außergerichtlichen Vergleich in den Ermittlungen zum internationalen Zigarettenschmuggel. Sie wollten, dass Martin ihnen hilft, und sie haben ihm einen Beratervertrag angeboten.«
»Den er ablehnte?«
»Nein, er hat unterschrieben und auch die erste Rate kassiert. Ich habe den Scheck gesehen, er war über fünfhunderttausend Euro.«
Anna hält einen Augenblick die Luft an. »Was ist so viel wert?«
Alicias Lächeln ist ein wenig überheblich. »Sie haben wohl keine Ahnung von seinen Geschäften. Martin Liebling war das wandelnde Wissen über Brüsseler Sünden. Es stand alles auf dieser Diskette, die verschwunden ist. Schultz wollte sie haben, aber soviel ich weiß, hat er sie nicht bekommen. Martin war ein Spieler manchmal, ich weiß nicht, was er vorhatte. Jedenfalls war Schultz ziemlich aufgebracht beim letzten Telefonat. Er klingt wie ein Mann, mit dem nicht gut Kirschen essen ist.«
Die Phrase erinnert Anna an ihre Mutter. Am Ende waren es die Ärzte, mit denen sie nicht gut Kirschen essen konnte. Doch weil sie eine Frau war, die vor Weißkitteln Respekt hatte, schluckte sie schweigend, bis zuletzt. »Trauen Sie ihm zu, dass er …« Sie wagt nicht, mörderische Sätze zu vollenden, aus Angst, dass Alicia wieder hysterisch wird.
Doch Alicia hebt nur die schmalen Schultern. »Ich habe ihn nie gesehen, nur mit ihm telefoniert beziehungsweise reingehört. Er wollte mehr für sein Geld, das hat er wörtlich gesagt. Und am Tag bevor … Martin wegfuhr … haben sie sich im ›Métropole‹ getroffen. Dort wohnt Schultz. Sie können ihn ja fragen. Er spricht allerdings kein Deutsch oder Französisch, nur diesen grässlichen amerikanischen Slang.«
Anna gedenkt ihrer beklagenswerten Sprachkenntnisse; sie beherrscht außer der Muttersprache nur ein bisschen Englisch. In Bonn und Berlin ist sie damit durchgekommen, und in dieser Stadt der Sprachgenies wird sie es auch schaffen. »Und warum ein
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