Anna Marx 9: Feuer bitte
rüttelt an ihrem Arm. »Ist Ihnen nicht gut, junge Frau?«
Anna entzieht sich dem Griff und stößt an den Vordersitz. Ihr Nachbar zur Rechten sieht sie besorgt an. Ihre Wangen sind nass, sie zieht eine Tränenspur mit dem Zeigefinger. »Es ist nichts … ich bin nur eingeschlafen und habe schlecht geträumt.«
Der Dicke schüttelt den Kopf. »Kein Wunder bei der Bestuhlung. Flugzeuge sind für Pygmäen ausgelegt. Sie haben einen Namen gerufen. Ihr Mann?«
Geht dich nichts an, denkt Anna, doch sein besorgter Blick beschämt sie. »Ein Freund … er ist tot.«
»Mein Beileid.« Er reicht ihr ein Taschentuch. »Ich habe vor kurzem meinen Dackel verloren, und ich träume immer noch von ihm. Er hieß Wotan und war ein wunderbares Tier. Wollen Sie ein Foto sehen?«
Anna betrachtet das Bild eines kleinen Hundes, der Wotan hieß. »Ist er auch ermordet worden?«
22. Kapitel
Europa sei Dank, dass die Passkontrollen entfallen sind. Annas Landung in Brüssel war sanft, und sie ist dankbar, noch am Leben zu sein. Entfernungen von der Erde sind ihr unheimlich, sie ist zu bodenständig fürs Fliegen. Anna will unten bleiben, mit beiden Füßen auf der Erde beziehungsweise in Schuhen, die sie in erträglichen Höhen halten.
Männer mit Aktenkoffern hasten an ihr vorbei, während sie langsam geht, noch benommen von den Albträumen des Fluges. Rauchverbot überall; früher wäre auch sie gerannt, um sich draußen, in der Freiheit, eine Zigarette anzuzünden. Jetzt fühlt sie sich kurzfristig als Heroin, die den Kampf mit der Sucht aufgenommen hat. Sie fällt in Wellen über sie her, die Gier, und Anna reitet darauf wie eine Kuh vorm Ertrinken. Um sich abzulenken, späht sie den Flughafen aus. Es könnte ja sein, dass David Liebling alias Richard Gore – oder wie immer er sich nennt – an ihr vorüberläuft. Was würde sie in diesem Fall tun? Sich auf ihn stürzen, ihn festhalten, nach der Polizei rufen? Die Frage beschäftigt Anna, bis sie Alicia am Ausgang sieht.
Sie trägt Schwarz und ist an den leuchtend roten Haaren leicht zu erkennen. Von weitem, denkt Anna, sieht sie gut aus, nur der nahe Blick enthüllt die Verwüstungen all der Jahre und Enttäuschungen. Anna schätzt sie auf Mitte vierzig, und, ja, sie mag einmal eine schöne Hysterikerin gewesen sein. Vielleicht ist es leichter zu altern, wenn man zu keiner Zeit ein Subjekt der Begierde war. Wie Anna. Nein, ist es nicht. Und der Teufel hole den körperlichen Verfall, der sich in Rückenschmerzen, allmählicher Erblindung und Vergesslichkeit zu Wort meldet. Erinnere dich, Anna: Was hat Liebling in dieser Nacht noch gesagt, während du dich voll geschüttet und gehofft hast, dass alles schnell und schmerzlos vorübergehen möge?
»Helena ist in Brüssel«, sagt Alicia anstelle einer Begrüßung. Ihr Gesicht ist voller Verachtung, Empörung und ohne jede Freude, Anna Marx wieder zu sehen.
Anna stellt ihre Reisetasche ab. »Wer ist Helena?« Sie stehen inmitten des Begrüßungsstaus. Menschen umarmen und küssen sich. So wollte sie immer empfangen werden. Doch es war nie einer da.
Alicias Stimme ist mit Tragik unterlegt: »Martins Exfrau. Sie hat noch den Schlüssel zu seiner Wohnung, er hat nicht einmal das Schloss austauschen lassen, obwohl ich ihn ein paarmal mahnte. In persönlichen Dingen war er einfach nachlässig.«
Zu viele Frauen in seinem Leben, denkt Anna und strebt zum Ausgang. Sie braucht frische Luft. Alicia folgt ihr, mit dem Gepäck in der Hand, das Anna glatt vergessen hätte. »Ich bin verwirrt«, sagt sie entschuldigend und greift in die Handtasche, aber nein, sie raucht ja nicht mehr. Ihre Hand bewegt sich unruhig, sie kann sich an den neuen Zustand nicht gewöhnen. Alicia deutet in die Richtung ihres Wagens, und Anna geht neben ihr. Sie trägt die Schuhe, die Martin ihr gekauft hat, sie sind zum Sterben schön. Eine Phrase, die Anna überdenken sollte. »Woher wusste seine Frau, dass er gestorben ist?«
»Exfrau! Aus der Zeitung? Sie war gar nicht mehr auf den Fidschi-Inseln oder Bahamas, oder wo immer sie sich rumgetrieben hat. Helena logierte bei ihrer Mutter in Düsseldorf. Vermutlich ist sie wieder auf der Suche nach einem Goldfisch, und jetzt denkt sie, dass sie was vom Erbe kriegt. Aber den Zahn habe ich ihr schon gezogen. Martin hat kein Testament gemacht, sie sind geschieden, und er hat sie ausbezahlt.«
Weiß Alicia denn alles über ihn? Anna steht vor dem Kleinwagen, der aussieht wie ein missglücktes Ei auf Rädern. Seit sie
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