Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
ich ihn aufhalten kann, läuft er davon. Ich brauche nur eine Millisekunde für die Entscheidung, ihm nicht zu folgen. Ich habe sein Bild im Gedächtnis gespeichert. Irgendwo habe ich ihn schon mal gesehen.
Ich trete zu Gloria, die am Kopf der Treppe steht und in die Richtung starrt, in die der junge Mann gerade verschwunden ist. »Wer war das?«
Als sie nicht antwortet, wende ich mich ihr ganz zu. »Gloria? Wer war das? Kein Reporter, dafür war er zu jung. Er war außer sich. Du hast ihn umarmt. Du hast doch nicht etwa was mit ihm? Noch ein Liebhaber, mit dem du David betrogen hast?«
Wie eine Gewitterwolke rollt ein wütender Ausdruck über ihr Gesicht. »Er ist noch ein Kind, An-na. Kaum vierzehn. Nein, er ist nicht mein Liebhaber.«
»Wer ist er dann?«
»Ein Freund. Mehr werde ich nicht sagen. Kannst du mich jetzt bitte endlich hier wegbringen? Ich will verdammt noch mal nach Hause. Unter die heiße Dusche. Dann können wir darüber reden, was du unternehmen willst, um Rorys Mörder zu finden.«
Sie ist mir schon drei Schritte voraus und rennt beinahe die Treppe hinunter in ihrer Hast, zu meinem Auto zu kommen oder weiteren Fragen über den geheimnisvollen jungen Mann auszuweichen.
Ich bin nicht ganz sicher, was davon zutrifft. Spielt auch keine Rolle. Ich habe ein deutliches Bild des Jungen in meiner Erinnerung und weiß genau, dass ich ihn von irgendwoher kenne. Nur deshalb habe ich ihn nicht aufgehalten oder Gloria unter Druck gesetzt, bis sie mir antwortet. Ich werde die Antwort schon selbst finden.
Der Junge kann weglaufen, Gloria, aber vor mir kann er sich nicht verstecken. Jedenfalls nicht lange.
Kapitel 18
Als wir im Auto sitzen, fällt mir plötzlich auf, dass vor dem Justizgebäude keine Paparazzi waren. Die Geier versammeln sich nicht schneller um einen blutigen Kadaver als die Presse um einen Promi in Schwierigkeiten. Ich drehe mich halb auf dem Sitz um und sehe Gloria an. »Wie hast du das angestellt?«
Ich brauche nicht zu erklären, was ich damit meine. Sie wedelt mit der Hand. »Die Anwaltskanzlei hat an die Presse durchsickern lassen, dass meine Anhörung heute Mittag um eins stattfindet. Ups.«
Ich muss den Einfallsreichtum dieses Anwalts bewundern, obwohl mir der Kerl leidtut, der nach seiner Anhörung wegen Zuhälterei oder sonst was nachher um eins das Gebäude verlässt und von hundert Kamerablitzen empfangen wird. Ich lasse den Motor an.
Davids Wohnung war bisher Glorias Zuhause in San Diego. Da sie wohl kaum davon ausgehen kann, dass ich sie dorthin bringen werde, frage ich: »Wo wohnst du jetzt?«
»Ich dachte, ich könnte erst mal bei dir bleiben.«
Die zehntausend Gründe, warum das auf gar keinen Fall in Frage kommt, sprudeln mir auf der Zunge wie ein Geysir, der gleich ausbrechen wird.
Zum Glück kann ich die Explosion noch unterdrücken, als mir klar wird, dass das ein Scherz war. Das erkenne ich daran, dass sie mich mit einem »Reingelegt!«-Grinsen auf dem Gesicht anstarrt.
»Ich habe eine Suite im Four Seasons«, sagt sie.
»Hätte ich mir ja denken können. Wo sonst solltest du absteigen als im teuersten Hotel von San Diego?«
Sie ignoriert den Sarkasmus, lehnt den Kopf an die Kopfstütze und schließt die Augen. Ich fahre los.
Wenigstens sitzt sie vorn, neben mir. Wenn sie hinten eingestiegen wäre, wäre ich mir endgültig wie ein Chauffeur vorgekommen und hätte sie womöglich mit einem Tritt in den mageren Hintern wieder aus dem Auto befördert.
Auf der Fahrt zum Hotel ist sie ganz still. Ich nutze die Zeit, um mich auf diesen Jungen zu konzentrieren und zu überlegen, wo ich ihn schon einmal gesehen habe. Es kommt nichts, aber ich mache mir deswegen keine Sorgen. Es wird mir schon noch einfallen. Irgendetwas wird die Erinnerung auslösen, und seine Identität wird aus den Tiefen meines Unterbewusstseins an die Oberfläche treiben.
Das Four Seasons ist das neueste und feinste Hotel in San Diego. Ich fahre vor dem Haupteingang vor, und ein Hoteldiener macht mir die Autotür auf, noch ehe wir ganz zum Stehen gekommen sind. An Glorias Tür steht ein weiterer Hoteldiener, der zu faseln beginnt wie ein aufgeregter Schuljunge, als er sie erkennt. Entweder weiß er nicht, dass sie die Nacht in einer Zelle verbracht hat, oder es ist ihm egal. Er eilt an uns vorbei, um uns die Tür zur Lobby aufzuhalten. Gloria rauscht an ihm vorbei wie eine Königin an ihrem Lakaien.
Ich folge ihr, nachdem ich den Abholzettel für mein Auto bekommen habe. Niemand beeilt sich,
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