Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
finden. Gloria ist eitel und selbstsüchtig, arrogant und narzisstisch, aber dumm ist sie nicht.
Außerdem glaube ich nicht, dass sie gestern Abend überhaupt eine Chance hatte, hierher zurückzukommen. Sie war mit mir und David im Restaurant und danach in einer Zelle. So, wie es hier aussieht, muss das Hotel zusätzliche Housekeeping-Kräfte in Rufbereitschaft haben, die nach einer Durchsuchung wieder Ordnung schaffen. Die Suite ist tadellos.
Ich gieße mir eine Tasse Kaffee ein und gönne mir Sahne (richtige Sahne, nicht das billige, künstliche Zeug) und Zucker. Als ich mich gerade auf einem Liegestuhl auf der Dachterrasse niedergelassen habe, kommt Gloria zu mir heraus. Ihre Haut glüht, das nasse Haar fällt ihr in Wellen ums Gesicht. Sie trägt einen blassgelben Seidenpyjama, der ebenso maßgeschneidert wie teuer aussieht. Matt lässt sie sich auf den Liegestuhl mir gegenüber sinken und deutet auf meine Tasse.
»Ist noch mehr Kaffee da?«
Mein boshafter Zwilling würde am liebsten sagen: »Ja, in der Küche. Sehe ich aus wie ein Dienstmädchen?« Doch die Erschöpfung in ihren Augen löst bei mir einen seltenen Moment des Mitgefühls aus, und ich stehe tatsächlich wieder auf, gehe in die Küche und gieße ihr eine Tasse Kaffee ein.
Mein Mitleid geht allerdings nicht so weit, dass ich auch noch nach Sahne oder Zucker fragen würde.
Sie nimmt den schwarzen Kaffee mit einem dankbaren Lächeln entgegen, und nach ein paar Schlucken fragt sie: »Was machen wir jetzt?«
Ich stelle meine Tasse auf die Glasplatte des Tischchens zwischen uns. »Jetzt erzählst du mir von Rory. Alles, was mich auf jemanden bringen könnte, der möglicherweise Grund hätte, ihn umzubringen.«
Sie neigt den Kopf zur Seite und beäugt mich über den Rand der Tasse hinweg. »Ich weiß wirklich kaum etwas. Wir haben nicht über persönliche Dinge gesprochen. Das hat sich nicht ergeben.«
Ich will eine gemeine Bemerkung über ihren völligen Mangel an Moral machen, als mir plötzlich Lance und die Eskapade der vergangenen Nacht vor Augen stehen. Okay. Wenn jemand von mir verlangen würde, irgendetwas Persönliches über Lance zu erzählen, etwa, wo er wohnt oder ob er Feinde hat, dann könnte ich diese Fragen auch nicht beantworten.
Andererseits bin ich mit ihm keine geschäftliche Partnerschaft eingegangen oder habe meinen Freund mit ihm betrogen.
»Ich weiß, dass ihr eure Zeit mit Ficken verbracht habt, aber ihr müsst doch ab und zu mal eine Atempause eingelegt haben. Hast du je ein Telefonat mitbekommen, das sich irgendwie seltsam angehört hat? Irgendetwas gesehen, das O’Sullivan verstört oder wütend gemacht hat?«
Gloria ignoriert meinen Tonfall und lässt den Blick übers Meer schweifen. Gleich darauf antwortet sie: »Nein, eigentlich nicht.«
»Eigentlich nicht? Komm schon, Gloria. Denk nach. Das wird die kürzeste Mordermittlung der Kriminalgeschichte, wenn du mir nicht etwas gibst, wo ich ansetzen kann. Dieser Prozess, mit dem er dir gedroht hat. Er hat dich verdächtigt, Geld unterschlagen zu haben?«
Sie winkt ab. »Das war nur Schikane. Er war für die Buchführung verantwortlich, Herrgott noch mal. Er wusste genau, dass kein Geld fehlt. Das war nur ein weiterer Schachzug, um mich herumzukriegen. Damit ich unsere Affäre wieder aufnehme.«
»Ich muss den Zettel mit dieser Nachricht sehen. Ist er noch im Restaurant?«
Sie nickt. »Ich rufe den Manager an und sage ihm, dass er dich ins Büro lassen soll. Sonst noch etwas?«
»Ob da sonst noch etwas ist?« Es fällt mir schwer, diese lethargische Gloria mit der scharfzüngigen Harpyie in Einklang zu bringen, an die ich gewöhnt bin. »Ja, Gloria, da ist allerdings noch etwas. Warum bist du gestern zu Rory gegangen? Er hat dich erpresst, er wollte Sex. Er war allein. Hattest du keine Angst, dass er dich vergewaltigen könnte?«
Gloria hört nicht zu. Sie schaut auf die Kaffeetasse in ihrer Hand. Die Hand beginnt zu zittern. Vorsichtig stellt sie die Tasse auf den Tisch. Jetzt fällt bei mir der Groschen. »Gloria, hast du etwas genommen? Ein Beruhigungsmittel oder so?«
Als sie mich diesmal anschaut, sehe ich es ganz deutlich. Die geweiteten Pupillen, den glasigen Blick. »Du hast etwas genommen, oder?«
»Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. Ich bin so müde.«
Na großartig. »Konzentrier dich. Erzähl mir von O’Sullivans Familienleben. Wie hat sich seine Frau dir gegenüber in der Öffentlichkeit verhalten? Hat sie je zu erkennen gegeben, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher