Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
versuchen, eine Seite herauszureißen, oder es versehentlich in die Badewanne fallen lassen, würde wahrscheinlich mein Kopf explodieren.
Das erste Kapitel ist der Geschichte der Lykanthropen gewidmet, wie das Buch sie bezeichnet (das Wort stammt vom Griechischen lykos , Wolf, und anthropos, Mensch). Deren Wurzeln reichen bis in die Vorgeschichte zurück.
Man glaubt, dass die jungen Krieger vieler indoeuropäischer Kulturen für gewisse Zeit in die Wildnis zogen, wo sie wie Wölfe lebten, sich in Felle hüllten und rohes Fleisch aßen, als Prüfung ihrer Kraft und ihres Mutes. Eine ganz ähnliche Tradition war die der »Berserker« oder Bärenmenschen, die in der Schlacht mit wilder, ungezügelter Aggression kämpften. Dass sie die Kontrolle über ihre animalische Seite verloren, wurde oft als Begründung für entsetzliche Greueltaten angeführt.
Dennoch hält es der Autor für unmöglich, dass ein Mensch körperlich zu einem Wolf oder Bären wurde – dass der menschliche Körper eines Werwolfs friedlich ruhte, während die Tiergestalt umherstreifte. Manche mittelalterlichen Aufzeichnungen widersprechen dieser Auffassung und berichten von Werwölfen, die getötet wurden, ehe die Verwandlung abgeschlossen war. Das tote Geschöpf hatte dann beispielsweise menschliche Hände oder Füße, bedeckt mit Pelz.
Keine schöne Vorstellung. Ich frage mich, ob das stimmt. Bisher hatte ich nur mit Gestaltwandlern zu tun. Verändert sich Sandra vollständig, oder ist sie halb Bestie, halb Frau?
Das restliche Kapitel erklärt die vielen Theorien darüber, wie die Verwandlung vonstatten geht, aber keine davon dreht sich um den Mond. Die meisten beinhalten Zauber und Tränke und Gürtel aus Fellen. Nichts, was für mich interessant oder nützlich sein könnte, falls zwischen Sandra und mir heute Abend etwas schiefgehen sollte.
Aber es deutet auch nichts darauf hin, dass Sandra als Werwesen außerordentlich gefährlich wäre. Hat Frey nur überreagiert? Vielleicht bringen die beiden nächsten Kapitel oder Kapitel siebzehn etwas Konkreteres.
Ich schaue im selben Moment auf die Uhr, als mein Handy klingelt. Es ist kurz nach zehn, also muss das Gloria sein. »Wie ist die Anhörung gelaufen?«
»Kannst du zum Gericht kommen und mich abholen?«
Sie klingt müde. »Ich nehme an, das heißt, sie haben dich auf Kaution freigelassen?«
»Ja. Ich musste aber meinen Pass abgeben und zwei meiner Häuser als Sicherheit verpfänden. Das hat knapp für die zwanzig Millionen gereicht. Trotzdem war der Staatsanwalt noch nicht zufrieden. Er wollte mich in Haft behalten.«
Man stelle sich vor. »Du wirst des Mordes beschuldigt, Gloria.«
»Danke, dass du mich daran erinnerst, Anna. Ich hatte schon ganz vergessen, warum ich in diesem Dreckloch sitzen musste.«
Sieh an, sieh an. Das Biest ist wieder da. »Ich bin in etwa zwanzig Minuten bei dir.«
Ich lege auf, ehe sie noch eine dämliche Bemerkung machen kann. Vielleicht sollte ich mich verfahren und sie noch ein bisschen schmoren lassen. Schließlich läuft ab jetzt die Uhr für meine zweihundert pro Stunde.
Gloria wartet auf der Treppe vor dem Gebäude, als ich vorfahre. Ich kann gut verstehen, dass sie lieber draußen wartet. Nach dem Knast wäre mir frische Luft auch lieber.
Ich will gerade hupen, um sie auf mich aufmerksam zu machen, als ein junger Mann um die Ecke gerannt kommt und die Treppe hinaufhetzt. Kommt wohl zu spät zu einer Anhörung. Aber er läuft nicht zum Eingang, sondern hält auf Gloria zu. Schnurstracks auf Gloria zu.
Ich schalte hastig auf Parken und springe aus dem Wagen. Beim Ausdruck auf seinem Gesicht – Verzweiflung, Qual – sträuben sich mir die Haare im Nacken. Ich lasse den Adrenalinstoß wirken und rase ihm hinterher.
Eine breite, sanft ansteigende Rasenfläche trennt mich von der Treppe. Gloria steht ganz oben. Ich öffne den Mund, um ihr eine Warnung zuzurufen, als sie den Jungen entdeckt und etwas so völlig Unerwartetes tut, dass ich wie erstarrt stehen bleibe.
Sie breitet die Arme aus. Der Junge stürzt sich hinein und beginnt zu schluchzen.
Gloria sieht mich am Fuß der Treppe. Sie richtet sich auf, schiebt den Jungen von sich und flüstert ihm etwas zu, so dicht an seinem Ohr, dass selbst mein vampirisches Gehör nichts versteht. Er dreht sich um und sieht mich an. Und dann flitzt er so schnell, wie er hinaufgerannt ist, die Stufen wieder herunter. Wie ein Kaninchen, das dem Fuchs aus-weicht, schlägt er einen weiten Bogen um mich.
Ehe
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