Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
sehr hübsch aus in einer dunklen Hose und einem handgestrickten Angorapulli in Regenbogenfarben. Ich bin nicht die Einzige, die sich heute Abend besondere Mühe gegeben hat.
Mom und Dad grinsen über das Kompliment, während Trish ein bisschen verlegen den Kragen ihres Pullis berührt. »Du findest also nicht, dass ich in dem Pulli, du weißt schon, komisch aussehe?«
Ich muss lachen. Typisch Teenager. »Warum solltest du darin komisch aussehen?«
»Na ja, er ist bunt.«
»Bunt ist doch gut. Bunt ist fröhlich und aufgeregt. Ihr drei könntet heute ganz San Diego erleuchten, so wie ihr strahlt.« Trish kichert.
»Du solltest dich auch freuen.« Mom beugt sich vor und berührt meine Hand. Dann nimmt sie sie in beide Hände und reibt sie sacht. »Du bist ja eiskalt, Anna. Fühlst du dich nicht gut?«
Mist. Ich war nicht schnell genug. Ständig vergesse ich, dass ich Hautkontakt vermeiden muss. Ich tätschele ihre Hände mit der Linken und entziehe die Rechte sanft ihrem Griff. Dann falte ich die Hände im Schoß und schüttele den Kopf. »Mir geht’s bestens.«
Sie sieht zwar nicht so aus, als würde sie mir glauben, aber sie nimmt den Gesprächsfaden wieder auf und fügt hinzu: »Das ist ein neuer Anfang für uns alle.«
Da. Das kann ich unmöglich falsch verstanden haben. Ich muss etwas sagen. Ich öffne den Mund, doch der Oberkellner erscheint ausgerechnet in diesem Moment, um zu verkünden, dass unser Tisch fertig sei. Mir ist noch ein kleiner Aufschub vergönnt, wenigstens ein paar Minuten, ehe ich ihnen allen das Herz brechen muss. Damit meine ich den großen Herzbruch. Der kleine kommt dann, wenn ich ihnen sage, dass ich noch vor dem ersten Gang wieder gehen muss.
Wir nehmen am Tisch Platz, der Kellner legt uns die Servietten auf den Schoß (Trish kichert auch darüber bescheiden und sehr niedlich), und der Sommelier tritt mit der Weinkarte zu uns. Dad winkt ab und erkundigt sich nach Champagner. Es werden mehrere genannt, die sich ausländisch und teuer anhören. Ich bin nicht überrascht, als Dad echten Champagner bestellt, keinen einheimischen Sekt. Der Sommelier zieht sich mit einer leichten Verbeugung und einem wohlwollenden Lächeln zurück und bedeutet den Kellnern mit einem Fingerschnippen, mit dem rituellen Wassereinschenken, Kerzenanzünden und Um-den-Tisch-Wuseln zu beginnen, das der Bestellung vorausgehen muss.
Trish verfolgt all das mit der Neugier und Freude eines Mädchens, das in seinem bisherigen Leben höchstens bei McDonald’s essen war. Es ist ein Vergnügen, sie zu beobachten. Ich kann mir ausmalen, wie sie auf die vielen kleinen Wunder Frankreichs reagieren wird. Plötzlich überkommt mich tiefe Traurigkeit, weil ich sie auf ihrer Entdeckungsreise nicht begleiten werde.
Wenn es denn eine Entdeckungsreise gibt. Ich befürchte immer noch, dass das irgendein ausgeklügelter Schwindel ist, und wenn die Wahrheit ans Licht kommt, wird die süße Vorfreude in umso bittere Enttäuschung umschlagen.
»Anna?« Moms Stimme holt mich in die Gegenwart zurück. »Was ist denn? Du machst so ein seltsames Gesicht, und du wringst diese Serviette in den Händen, als würdest du in Gedanken jemanden erwürgen.« Kein schlechter Vergleich. Falls sich das Ganze tatsächlich als Schwindel entpuppen sollte.
Ich lege die Serviette wieder zusammen, lege sie neben meinen Teller und bemühe mich zu lächeln. »Ich musste nur an die Arbeit denken.«
»Arbeit?«, echot Mom. »Warum solltest du heute Abend an die Arbeit denken?«
O Gott. Ich zwinge mich, es zu sagen. »Es tut mir furchtbar leid, aber ich kann nicht zum Essen bleiben.«
Drei Stimmen fragen: »Warum nicht?«
»Wir haben einen Auftrag. David und ich müssen hoch nach Del Mar. Ein Kerl, hinter dem wir her sind, ist dort aufgetaucht, und das ist unsere große Chance. Er wurde in einer berüchtigten Bar gesehen.« Ich mache eine ausholende Geste. »Deshalb dieser Aufzug.«
Trish beugt sich begierig vor. »Darf ich mitfahren? Ich würde dich so gern mal in Aktion sehen.«
Mom und Dad schnappen nach Luft. Dad sagt: »Ich fürchte, das ist keine so gute Idee, oder, Anna?«
Ehe ich antworten kann, sagt Mom: »Kommt gar nicht in Frage, junge Dame.« Sie dreht sich halb auf ihrem Stuhl herum und sieht mir direkt in die Augen. Sie ist wütend. Ihre Stimme bebt vor Zorn.
»Ich kann es einfach nicht fassen, dass du uns ausgerechnet heute Abend sitzenlässt. Dies ist eine Familienfeier. Du wirst diesen Job nicht mehr lange brauchen. Je eher du
Weitere Kostenlose Bücher