Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
bewusst vage, als es darum geht, wie genau ich die Waffe gefunden habe, und es könnte sein, dass ich bei ihr den Eindruck erweckt habe, Jason sei zu Hause gewesen, als ich dort nicht eingebrochen bin.
Sie beobachtet mich wie ein Adler eine Maus. Ich habe das deutliche Gefühl, dass sie sich von mir nicht täuschen lässt.
»Also«, sagt sie, als ich eine Atempause mache. »Sie waren auf Einladung des minderjährigen Sohnes im Haus der O’Sullivans, weil er seine Stiefmutter verdächtigt, seinen Vater ermordet zu haben, und da sind Sie irgendwie in Mrs. O’Sullivans privates Arbeitszimmer geraten, wo Sie zufällig über einen kleinkalibrigen Revolver in einer Schreibtischschublade gestolpert sind. Könnte man es so zusammenfassen?«
Es fehlt noch das, was ich in Jasons Zimmer gefunden habe. Aber ich denke, das sollte ich im Augenblick auch nicht erwähnen. »So ziemlich.« Am liebsten würde ich mit den Wimpern klimpern und ihr zuzwinkern.
Sie schweigt kurz und zieht mit dem Löffel langsame Kreise in ihrem Kaffee. Schließlich streift sie den Löffel am Rand des Bechers ab, legt ihn auf den Tisch und hebt den Becher zum Mund. Aber statt zu trinken, beäugt sie mich über den Rand hinweg. »Als Organ der Rechtspflege fühle ich mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, dass Sie sofort die Polizei hätten rufen müssen, als Sie die Waffe gefunden haben. Ob sie Miss Estrella nun entlastet oder nicht, sie könnte als Beweis unbrauchbar geworden sein, weil Sie sie angefasst haben.«
Ich unterbreche sie, indem ich die Hand hebe. »Ich habe die Waffe nicht berührt. Darauf habe ich natürlich geachtet. Ich habe sie in einen Umschlag gelegt und versteckt. Das ist alles. Ich habe sie nicht mitgenommen oder so.«
Sie schüttelt den Kopf und stellt den Becher wieder auf den Tisch, ohne daraus getrunken zu haben. »Das spielt keine Rolle. Die Gerichte befolgen strenge Regeln, was die lückenlose Dokumentation der Beweiskette angeht. Selbst wenn sich herausstellt, dass Glorias Fingerabdrücke nicht auf der Waffe sind, sondern ausschließlich die von Mrs. O’Sullivan – falls herauskäme, dass Sie die Waffe aus ihrem ursprünglichen Versteck wegbewegt haben, könnte sie als Beweismittel in einem Prozess unzulässig sein.«
»Was ist mit einer ballistischen Untersuchung? Die Polizei hat das Projektil, das O’Sullivan getötet hat. An der Innenseite des Laufs hätte ich wohl kaum etwas manipulieren können, oder?«
»Nein.« Sie zieht das Wort in die Länge, als ginge sie im Geiste die Möglichkeiten durch, ehe sie die Antwort formuliert. »Okay, Anna«, sagt sie dann. »Wir machen das so: Ich erzähle Harris von der Waffe. Er wird fragen, woher ich davon weiß. Ich werde ihm sagen, dass ich die Identität meines Informanten streng vertraulich behandeln muss. Darum wird es einen kleinen Eiertanz geben, aber ich denke, er müsste einen Durchsuchungsbeschluss bekommen. Wenn er die Waffe hat, kann er sie forensisch untersuchen lassen, Ballistik, Fingerabdrücke und so weiter. Falls wir Glück haben und es sich tatsächlich um die Tatwaffe handelt und sie Mrs. O’Sullivan gehört, wird er die Anklage gegen Gloria fallenlassen.«
Sie nimmt ihre Aktentasche und trinkt einen einzigen Schluck Kaffee. »Aber erst reden wir mit Gloria. Hoffen wir, dass O’Sullivan sie nie zu einem Schießstand mitgenommen hat oder sie beeindrucken wollte, indem er im Garten Eichhörnchen vom Baum schießt. Wenn sie uns gleich sagt, dass sie in seinem Haus eine Waffe in der Hand hatte oder auch nur ein einziges Mal angefasst hat, dann ist es egal, was irgendwelche Untersuchungen ergeben – dann nützt uns die Waffe nämlich einen feuchten Dreck.«
Kapitel 47
Als wir ins Krankenzimmer kommen, herrscht zwischen David und Gloria eine solche Spannung, dass es sich anfühlt, als betrete man einen Tiefkühler. David sitzt am Fußende des Bettes und hat den Stuhl bis an die Wand zurückgeschoben, um so viel Distanz zu Gloria zu haben, wie es nur möglich war, ohne den Raum zu verlassen. Gloria schaut aus dem Fenster, die Lippen streng geschürzt, und weicht Davids Blick aus wie eine Ratte im Kobra-Terrarium.
Zumindest äußerlich sieht sie besser aus, als ich sie zuletzt im Hotel gesehen habe. Sie ist sauber, das Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, aber ihr Gesicht ist immer noch blass und wirkt abgespannt vor Angst und Müdigkeit.
Beider Mienen hellen sich auf, als Jamie und ich eintreten. Gloria rutscht im Bett rückwärts, um aufrechter zu
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