Anna Strong Chronicles 05 - Blutrotes Verlangen
Grenzübergang ist lang. Ich stecke hinter zwanzig Autos fest, die darauf warten, durchgewunken zu werden. Das macht mir nichts aus, denn ich habe es nicht eilig. Ich trommele mit den Fingerspitzen auf dem Lenkrad herum und spiele im Geiste alles noch einmal durch, was seit Sandras Anruf am Sonntagabend geschehen ist.
Jeden Fehler, jede Dummheit, jedes Versagen. Ich bin Burke zu dem Restaurant gefolgt. Ich habe mich ihr zu erkennen gegeben. Dummer Fehler Nummer eins. Dann der erste Einbruch in die Fabrikhalle. Ich hätte jede verdammte Akte im ganzen Haus kopieren können. Warum habe ich das nicht getan?
Stattdessen habe ich mir alle möglichen nutzlosen Informationen eingeprägt. Burke wusste, dass ich nach ihr suche. Wie bin ich nur auf den Gedanken gekommen, dass sie in diesem Haus in Coronado herumsitzen und auf mich warten würde? Mir die Namen ihrer Angestellten und Versuchspersonen zu merken, wäre viel wertvoller gewesen. Dummer Fehler Nummer zwei.
Hinter mir hupt jemand. Ich widerstehe dem Impuls, ihm den Mittelfinger zu zeigen, und rolle etwa einen halben Meter vorwärts. Mein Kopf tut weh. Einhundert Testpersonen. Drei davon tot. In dem ganzen Chaos habe ich glatt vergessen, Williams nach den Berichten der Gerichtsmedizin zu fragen. Vielleicht rufe ich ihn an, wenn ich zurückkomme. Vielleicht.
Wenn Culebra stirbt, wird es mir wohl ziemlich egal sein, woran diese Frauen gestorben sind. Die Vorher-nachher-Fotos der drei Toten blitzen wie eine Diashow vor meinem inneren Auge auf.
Die Veränderung war unglaublich. Vampirblut hat das bewirkt? Ich frage mich, ob sie immer noch so glücklich über das Ergebnis gewesen wären, wenn sie gewusst hätten, welchen Preis ihre Eitelkeit für diese jungen Mädchen hatte. Zwölf tote Vampire.
Hätte das die Kundinnen gekümmert? Im Geiste sehe ich noch einmal alles durch, was ich in Burkes Akte gefunden habe – Versicherungsverträge, Strom- und Wasserrechnungen –, und da war noch etwas, oder?
Ich lege den Rückwärtsgang ein und zwinge den Kerl hinter mir, Platz zu machen. Er brüllt und schwingt drohend die Faust, doch ich drängele ihn weiter rückwärts, bis ich genug Platz zum Wenden habe. Als ich losfahre, lächle ich ihm lieblich zu und winke zum Abschied.
Mir ist eingefallen, was noch in Burkes Akte war. Eine Telefonnummer, ohne Namen oder Adresse, nur die Nummer. Ich fahre mit einer Hand am Lenkrad, während ich mit der anderen in meiner Handtasche herumkrame. Wo ist das verdammte Handy? Endlich bekomme ich es in die Finger. Ich lasse die Nummer aus meinem Gedächtnis an die Oberfläche meines Bewusstseins treiben und wähle sie.
Es klingelt einmal, zweimal, zehnmal. Niemand geht dran. Auch kein Anrufbeantworter. Mist. Als Nächstes rufe ich Williams an. Ich erwische ihn auf dem Rückweg zu Brooke. »Mir ist gerade etwas aus Burkes persönlicher Akte eingefallen. Kannst du eine Inverssuche zu einer Telefonnummer machen?«, frage ich. »Mir einen Namen und die Adresse beschaffen?«
Er fragt nicht nach dem Grund, sondern nur: »Wie lautet die Nummer?«
Ich nenne sie ihm. »Rufst du mich an, sobald du etwas gefunden hast?«
»Bleib dran.« Die Verbindung wird stumm geschaltet, und er lässt mich fast eine Minute lang warten. Ich werde gerade ein bisschen wütend, als er sich mit einem Klicken zurückmeldet.
»Das ist eine Nummer in Denver. Wir treffen uns am Flughafen.«
»Am Flughafen? Warum? Ist das Burkes Nummer?«
»Komm einfach.« Williams legt auf. Eine Nummer in Denver? Wenn das so ist, irre ich mich vielleicht, und sie ist völlig unbedeutend. Womöglich hat sie mit Burke gar nichts zu tun. Vielleicht liege ich schon wieder falsch.
Ich fahre wieder auf den Freeway auf und in Richtung Westen. Warum will Williams mich am Flughafen treffen? Er muss einen bestimmten Grund dafür haben, aber warum will er ihn mir nicht nennen? Was verschweigt er mir?
Als Nächstes rufe ich Freys HandyNummer an. Seine Stimme lässt mich schaudern. »Du lieber Himmel, du klingst ja furchtbar.«
Er bringt ein Lachen zustande. »Wenn du wüsstest, wie ich erst aussehe. Anna, wo bist du?«
Ich erkläre es ihm und lege so viel Zuversicht wie möglich in eine neue Wendung, die sich bald als wertlos erweisen könnte. Er hört mir zu. Dann sagt er: »Beeil dich. Mir bleiben noch etwa vierundzwanzig Stunden.«
»Vierundzwanzig Stunden? Wofür?«
Frey hustet und räuspert sich. »Um so zu enden wie Culebra. Oder noch schlimmer.«
Kapitel 38
Der Flughafen von San
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